Alina Kirschniok beschäftigt sich in ihrer
Studie, die zugleich ihre Dissertation ist, mit Unterstützungsnetzwerken für
Menschen mit Behinderung, so genannten Circles of Support. Der Ansatz der
Unterstützungsnetzwerke stammt aus dem angloamerikanischen Raum und ist eng mit
den Ideen der Community- Living-Bewegung verbunden. Circles of Support bestehen
in diesem Kontext meist aus Personen des näheren und weiteren persönlichen
Umfelds einer Person mit Unterstützungsbedarf, der so genannten Fokusperson,
die in ihren Belangen und bei der Realisierung von Wünschen unterstützt wird,
um ein selbstbestimmtes Leben in der Gemeinde zu realisieren. Damit ist die
Idee verbunden, das persönliche Netzwerk der Fokuspersonen zu stärken und auf
erweiterte Netzwerkressourcen zurückzugreifen.
Im deutschsprachigen Raum hat
sich der Begriff Unterstützerkreis etabliert, der im Rahmen der persönlichen
Zukunftsplanung, einem Ansatz, der sich als Alternative zu herkömmlichen
institutionellen Hilfeplanverfahren versteht, und bei Menschen mit sogenannten
geistigen Behinderungen zum Einsatz kommt.
Gegenstand der Untersuchung von
Kirschniok ist eine spezifische Variante von Circle of Support, die von Knust- Potter
im Rahmen studentischer Projekte an der Fachhochschule Dortmund entwickelt
wurde. Hierbei bilden Studierende Circles of Support und unterstützen als eine
Art künstliches Netzwerk über einen begrenzten Zeitraum vornehmlich Personen
mit autistischen Störungen. Das Ziel der Arbeit von Kirschniok ist es, Circles
of Support »auf der Grundlage netzwerkanalytischer Kategorien zu untersuchen«
(S. 17).
Daraus
resultieren folgende Forschungsfragen:
Wie ist ein typischer Circle of Support
am Dortmunder Beispiel hinsichtlich seiner Struktur konstituiert und welche
Unterstützung leistet er?
Welche Funktion hat ein Circle of Support für die
beteiligten Akteure?
Was leistet er für die beteiligten Akteure und welche
Ressourcen ziehen die involvierten Personen aus diesem Netzwerk? (S. 23).
Theoretisch fundiert wird das weitere
Vorgehen durch das Erarbeiten zentraler netzwerktheoretischer Aussagen
(begriffliche Bestimmung, Funktionen und Ressourcen von Netzwerken) und der
Netzwerkanalyse sowie der Netzwerkforschung, die jeweils zum eigenen
Forschungsgegenstand in Bezug gesetzt werden.
Das dritte Kapitel befasst sich
mit Netzwerken und sozialer Unterstützung im Kontext von Behinderung (S. 40ff.). Hier zeichnet die Autorin zunächst die
kritische Diskussion zum Behinderungsbegriff und Veränderungen hinsichtlich des
Behinderungsverständnisses nach. Behinderung als »variable Kategorie«, die »von
sozialer Zuschreibung lebt« wird von Kirschniok (S. 43) unter netzwerkanalytischer Perspektive
verschiedenen Zonen (Individuum / Subgruppe, Verbindung zwischen den
Individuen, Netzwerkebene) zugeordnet, die ihr geeignet scheinen, als Folie für
die Analyse zu dienen. Da die Fokuspersonen der Dortmunder COS-Projekte
hauptsächlich Menschen mit autistischen Störungen waren, wird das »autistische
Kontinuum« (S. 45) genauer
spezifiziert. Hierzu listet die Autorin die klassischen diagnostischen
Kriterien nach DSM IV auf und ergänzt diese um alternative Sichtweisen zum
autistischen Spektrum.
Der für die Behindertenbewegung leitenden Idee der
Selbstbestimmung, die zum Ziel der Behindertenpolitik avancierte, widmet sich
die Autorin in weiteren Ausführungen und weist zugleich darauf hin, dass der
Aspekt der Selbstbestimmung im Zusammenhang mit Autismus bislang so gut wie
nicht thematisiert wurde. Zur Netzwerksituation von Menschen mit Behinderung
und der sozialen Unterstützung liegen einige empirische Daten vor, die von
Kirschniok zusammengefasst werden. Dabei zeigt sich des Öfteren, dass Netzwerke
von Menschen mit Behinderung tendenziell kleiner sind als bei nicht behinderten
Personen und familiäre wie auch professionelle Netzwerkmitglieder eine größere
Rolle im Netzwerk spielen. Bei Menschen, die in institutionellen Settings leben
oder Sondereinrichtungen besuchen, findet sich ebenfalls eine spezifische
Ausprägung der Netzwerke. Besonderheiten ergeben sich bei Menschen mit einer
autistischen Störung aus Schwierigkeiten beim Aufbau sozialer Kontakte, die aus
der Beeinträchtigung resultieren und soziale Aktivitäten zu einem anstrengenden
Unterfangen machen (S. 59).
Kirschniok geht vom Wunsch nach erweiterten Netzwerken bei Menschen mit
autistischen Störungen aus und leitet hieraus den Bedarf ab, den Aufbau von
Netzwerken zu initiieren und zu begleiten, sofern dies nicht mit dem Recht auf
Selbstbestimmung kollidiert (S. 60).
Der empirische, zweite Teil des Buches enthält das Design ihrer
Studie, dokumentiert die Entwicklung der Instrumente, die Durchführung der
unterschiedlichen Erhebungsteile, deren Auswertung und die Dokumentation der
Ergebnisse. Ergänzend dazu ist der empirische Datensatz II und III über das
Online PLUS Portal des VS Verlags abrufbar. In einem ersten Schritt wurden von
Kirschniok Jahresberichte und Protokolle der Studierenden aus den Dortmunder
COS-Projekten des Zeitraums von 1998–2007 ausgewertet
(Datensatz I). »Wiederkehrende thematische Schwerpunkte« (S. 65) wurden in einem Codebaum geordnet und
anhand von Zitaten exemplarisch vorgestellt. Dieser Teil bietet einen
ausführlichen Einblick in das Dortmunder COS-Projekt aus der Perspektive der
teilnehmenden Studierenden.
Aus dem gleichen Material destilliert die Autorin
Merkmale zur strukturellen und zur inhaltlichen Morphologie der Dortmunder
Circles heraus. Erschließen lassen sich aus der Auswertung dieses Materials
zugleich Lern- und Reflexionsprozesse der Studierenden. Die Grenzen des als
Datensatz 1 bezeichneten
studentischen Materials liegen in der fehlenden, differenzierten Dokumentation
der Netzwerke der Fokuspersonen. Außerdem ist die Sicht der Fokuspersonen dort
nicht dokumentiert. In einem weiteren Schritt wurden daher problemzentrierte
Interviews (Datensatz II) mit drei Fokuspersonen, deren Müttern, den
Studierenden der jeweiligen Circles (8) und drei therapeutischen Fachkräften durchgeführt.
Die Fragen
für die Interviews wurden von einer Fokusperson entwickelt, diese wurden dann
modifiziert und in den Frageleitfaden übernommen. Die Fokuspersonen und die
Studierenden ihres Circles wurden zusätzlich mit einem standardisierten
Fragebogen befragt (Datensatz III). Dieser enthielt die Aufforderung, eine
Netzwerkkarte zu erstellen sowie Fragen zur Netzwerkqualität und zur sozialen
Unterstützung durch den Circle. In der Auswertung und Ergebnisdarstellung
fließen die Befunde zu den Netzwerken aus den Netzwerkkarten und die inhaltsanalytisch
gewonnen Ergebnisse zusammen. Dabei werden die Netzwerke der untersuchten
Fokuspersonen dargestellt und unter verschiedenen netzwerkanalytischen
Gesichtspunkten betrachtet.
Die Netzwerkkonstellationen der drei untersuchten
Personen mit einer autistischen Störung zeigen große Parallelen. So haben
familiäre Kontakte, Kontakte zu Therapeuten und anderem professionellen
Personal sowie zum COS eine große Bedeutung im Netzwerk, währenddessen
altersgemäße freundschaftliche Kontakte fehlen (S. 108–115). Anschließend werden morphologische Merkmale der einzelnen
Circles of Support herausgearbeitet, deren Vernetzung abgebildet und
ausgewählte inhaltliche Aspekte vorgestellt. Dazu gehören auch Aspekte zur
Funktion und den Ressourcen von COS sowohl für die Fokuspersonen als auch die
Studierenden, wozu das Ausloten der Themen Selbstbestimmung und Grenzen der COS
gehört.
Grenzen der Circles of Support in der untersuchten Variante als
zeitlich begrenzte studentische Circles deuten sich nach Kirschniok in Bezug auf
das Aktivitätenspektrum (Schwerpunkt Freizeit), die Erweiterung des
persönlichen Netzwerks und die soziale Einbindung an. So bleibt offen, wie
nachhaltig die neuen Erfahrungen aus der Zeit des gemeinsamen Arbeitens im
Circle für die Fokuspersonen sind. Circles of Support bzw. Unterstützerkreise
verstehen sich als innovative Strategie, Personen mit Behinderung bei der
Verwirklichung ihrer Wünsche und Ziele und dem Erlangen von Selbstbestimmung
mit Hilfe von Netzwerkressourcen zu unterstützen und dabei auf die
Verschränkung von informellen und formellen Hilfen zu setzen.
Es ist das
besondere Verdienst der Studie von Kirschniok, den innovativen Ansatz der
Unterstützerkreise, zu dem es bislang kaum empirische Befunde gibt, in den
Fokus einer Untersuchung zu rücken und dies mit den Ansätzen der
Netzwerkforschung zu verbinden. Sie liefert eine kompakte Zusammenfassung zum
allgemeinen Stand der Netzwerkforschung und der Befunde zu Netzwerken
behinderter Menschen und füllt dies durch ihre eigenen Analysen mit Leben. Empirisch
interessierte Leser und Leserinnen erhalten hier wichtige forschungsmethodische
Anregungen. Insgesamt fordert der empirische Teil jedoch der Leserin oder dem
Leser einiges ab, da die Darstellung gelegentlich etwas sprunghaft wirkt. Einen
besonders guten Einblick erhält man indes in die Art und Weise des Arbeitens
der studentischen Circles sowie der Lernprozesse der Studierenden und damit
zugleich wertvolle didaktische Hinweise für vergleichbare Projekte. Schließlich
ist dem Fazit Kirschnioks zuzustimmen, dass in Deutschland noch großer
Handlungsbedarf besteht, um Circles of Support als abrufbare Ressource mit
geschulten Koordinatoren im Sinne eines gemeindeorientierten
Unterstützungssystems zu etablieren.
Hiltrud Loeken