Das Buch ist in die drei Teile Grundlagen,
Diagnostik und Interventionen gegliedert. Julius stellt im ersten Teil des
Buches Grundlagen der Bindungstheorie dar. Anhand einer Studie an zwei Schulen
für Erziehungshilfe berichtet er über Prävalenzen von familiärer Gewalt und
belegt, wie nachteilhaft sich die erlittenen Beziehungstraumata auf die
Bindungsmuster der Kinder auswirken. Gasteiger-Klicpera gibt ein genaues Bild
über die zerstörende Wirkung von erlebter Gewalt in familiären Beziehungen auf die
weitere Beziehungsgestaltung des Opfers und bezieht dabei vor allem prospektive
Längsschnittstudien ein. Schleiffer beschreibt Parallelen in der Entwicklung
von aggressiv-verhaltensauffälligen Kindern einerseits sowie Kindern mit
Lernstörungen andererseits, die er bindungstheoretisch erklärt: Diese Kinder
werden gleichermaßen von ihren Bindungspersonen nicht ausreichend klar
emotional adressiert und somit nicht in ihrer Selbstkompetenz gestärkt. Vor
diesem Hintergrund deutet er aggressives Durchsetzen ebenso als
Problemlöseversuch (Suche nach eindeutiger Reaktion des Gegenübers) wie auch
als einen Mangel an Explorationsfähigkeit bei lernbehinderten Schülern (Schutz
vor Überforderung). Daher plädiert der Autor dafür, dass bindungstheoretisches
Wissen eine größere Bedeutung für die Aus- und Weiterbildung der Akteure im
Kinder- und Jugendhilfebereich spielen sollte. Kißgen diskutiert Kontinuität
und Diskontinuität von Bindung anhand von Längsschnittstudien. Demnach haben
Bindungserfahrungen im zweiten und dritten Lebensjahr einen entscheidenden
Einfluss auf die weitere Entwicklung etwa der sozialen Kompetenz. Insbesondere
spielen familiäres Stresserleben und die Qualität der Paarbeziehung eine
entscheidende Rolle dafür, inwiefern Eltern sich in dieser Phase feinfühlig um
ihre Kinder kümmern können.
Im zweiten Buchteil »Diagnostik« stellt Kißgen die Entwicklung der Fremden
Situation anhand der Kodierung der Bindungsmuster sowie typischer Reaktionen
von Kindern auf die Trennung und Wiedervereinigung vor. Als weiteres Verfahren
stellen Bretherton und Kißgen die Attachment Story Completion Task (ASCT) vor,
die es ermöglicht, Bindungsrepräsentationen im Symbolspiel bei 3- bis 8-jährigen Kindern zu erfassen. Dabei erzählt der Interviewer einen
Geschichtenanfang, das Kind soll dann mit den Familienfiguren spielen, wie es
weitergeht.
Das Erwachsenen- Bindungs-Projektiv (AAP), das zunehmend bereits im Jugendalter
eingesetzt wird, wird von George, West und Kißgen vorgestellt. Dabei wird die
Klassifikation der Bindungsrepräsentationen anhand von Transkriptbeispielen
beschrieben. In den Beiträgen von Henri Julius sowie Klaus und Karin Grossmann
geht es um den Separation Anxiety Test (SAT). Bei diesem Verfahren werden
Bilder gezeigt, in denen ein Kind für kürzere oder längere Zeit von seiner
Bindungsperson getrennt ist. Die Kinder werden nach Gefühlen und
Handlungsmöglichkeiten in einer solchen Situation gefragt. Julius geht dabei
ausführlich auf die Sprachmuster von Kindern mit desorganisierten
Bindungsstrategien ein. Eindrücklich zeigt er, wie Äußerungen von Kindern auf
abgetrennte Erlebnisinhalte, die dem bewussten Erinnern nicht zugänglich sind,
hinweisen.
Grossmann und Grossmann heben die Rolle von Eltern-Kind- Dialogen hervor; sie
fanden bei sicher gebundenen Kindern unter anderem eine größere
Personenorientierung bei negativen Gefühlen und eine partnerbezogenere Suche
nach Lösungen im Vergleich zu unsicher gebundenen Kindern. Zu allen genannten
Verfahren werden jeweils empirische Befunde und Praxisbeispiele in ausgewogenem
Verhältnis zusammengetragen. Diesen Verfahren ist gemeinsam, dass nicht primär
der Inhalt des
Dargestellten ausgewertet wird, sondern eine entscheidende Rolle spielt, wie Kinder Bindungsgefühle und -strategien
sprachlich ausdrücken.
Im Unterschied dazu stellen Trudewind und Steckel einen Fragebogen zur
Bindungsqualität 8- bis 14-Jähriger vor, in welchem nicht die
spontan-sprachlichen Äußerungen, sondern die Auswahl aus vorgegebenen
Antwortmöglichkeiten erfasst wird. Damit soll ein effizienteres Erfassen der
Bindungsrepräsentation auch in der klinischen Praxis möglich werden.
In Teil III »Interventionen« beschreibt Kißgen das STEEP-Programm – ein
bindungsorientiertes Video-Interaktions- Training, welches aus den
Erkenntnissen der Minnesota-Längsschnittstudie an Hochrisikofamilien entstand.
Es wird derzeit in Deutschland in verschiedenen Einrichtungen der Kinder- und
Jugendhilfe, u.a. in Mutter-Kind-Einrichtungen, eingesetzt und in einer
Multicenterstudie evaluiert.
Suess und Scheuerer- Englisch betrachten das Verhältnis von Kindeswohl und
Elternwohl aus Sicht der Erziehungsberatung. Die Autoren geben anschauliche
Beispiele dafür, wie sich bei Eltern eigene Bindungserfahrungen in
entsprechenden Fürsorgemustern wiederfinden. Sie erläutern, wie auf diese Muster
im Beratungsgespräch so eingegangen werden kann, dass die Eltern ihre
Erziehungskompetenzen wieder mehr wahrnehmen und die Sicht des Kindes vermehrt
in den Blick bekommen können. Schließlich behandeln die Autoren die besonderen
Bedingungen in der Arbeit mit Pflegefamilien.
Die abschließenden Kapitel von Strohband, Julius und Unzner beziehen sich auf
bindungsorientiertes Handeln in Kindertagesstätten, Förderschulen und in
Heimen. Dabei betonen sie, dass schwierige Situationen mit den Kindern oftmals
ungünstige Bindungserfahrungen widerspiegeln. Aus diesem Grund ist es den
Fachkräften geboten, darauf eine adäquate Antwort im Sinne alternativer
Beziehungsangebote für die Kinder zu finden.
Strohband beleuchtet in ihrem Beitrag »Bindungsgeleitetes Vorgehen in
Kindertageseinrichtungen«, welche Rolle die sekundären Bindungsbeziehungen der
Kinder zu Erzieherinnen spielen. Sie stellt zwei Ansätze vor, in denen die
Gestaltung der Eingewöhnung auf das jeweilige Bindungsmuster des Kindes
abgestimmt wird. Die Autorin beschreibt ein bindungsorientiertes
Fortbildungscurriculum für Erzieherinnen, das auch deren eigene
Bindungsgeschichte anspricht und den Umgang mit schwierigen Situationen mit
Kindern und Eltern in Form einer Fallsupervision einbezieht. Julius schlägt unterschiedliche
Möglichkeiten vor, Verhaltensauffälligkeiten von Schülern in der schulischen
Erziehungshilfe zu beantworten. Anschaulich wird geschildert, wie sich
Bindungserfahrungen der Schüler auf der Verhaltensebene in der
Lehrer-Schüler-Beziehung wiederholen und wie wichtig es daher ist, diese nicht
komplementär zu beantworten, etwa lediglich zu sanktionieren, sondern dem
Schüler eine neue Beziehungserfahrung zu ermöglichen. Auch dieser Beitrag
widmet sich ausführlich Kindern mit einem desorganisierten Bindungsmuster.
Unzner schließlich erläutert die Risiken für die Entwicklung von Heimkindern.
Neuere Studien belegen, dass mehr als die Hälfte dieser Kinder keine
organisierten Bindungen zu den Erziehern aufbaut. Unzner zeigt auf, wie bei der
Aufnahme ins Heim Bindungsbedürfnisse der Kinder zu berücksichtigen sind. Für
die weitere Betreuung der Kinder im Heim und die Arbeit mit den Herkunftseltern
werden wertvolle Hinweise anhand von Fallvignetten herausgearbeitet.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die einführenden Kapitel im
Abschnitt »Grundlagen« es einer großen Leserschaft ermöglichen, sich mit der
Bindungstheorie vertraut zu machen. Für Praktikerinnen und Praktiker aus den
Bereichen der frühen Kindheit bis hin zum Jugendalter stellen die Längsschnittbefunde
sowie die Darstellungen zu desorganisierten Bindungsmodellen eine wichtige
Orientierung dar. Das inzwischen breiter gewordene Spektrum an Verfahren zur
Bindungsdiagnostik wird im Abschnitt »Diagnostik« differenziert dargestellt.
Insbesondere die Beiträge im Abschnitt »Interventionen« vermitteln ein
reichhaltiges klinisches und pädagogisches Anwendungswissen in den jeweiligen
Praxisfeldern der Jugendhilfe und der Förderpädagogik. Somit kommen die
Autorinnen und Autoren dem Ziel des Buches, »die praktische Bedeutung von
Bowlbys Bindungstheorie aufzuzeigen«, in sehr gelungener Weise nach.
Kai Brüggemann