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Choix de vie: Liewenschaff - Merscheid
Roman von Götz

Jugendliche Schulabbrecher als Fotomodelle – fast könnte diese Schlagzeile für das vorliegende Werk zutreffen. Laut Definition ist ein Fotomodell eine Person, die einem Künstler als Vorlage für sein Kunstwerk dient. Die zugrunde liegende Realität, die in diesem Fotokunstband dokumentiert wird, geht jedoch noch einen großen Schritt weiter! Die Jugendlichen sind nicht Vorlage, sondern sie sind mittendrin, sie sind Kunstwerk, Teilnehmer und Gestalter im gesamten Spektrum dieses vielfältigen Projekts. Der Verlag Saint Paul (http://www. editions.lu/) gibt einmal pro Jahr ein Kunstbuch heraus, im Jahr 2010 ist es das Werk »Choix de vie« (Lebensstile). Dieses Fotobuch entstand aus einem pädagogischen Projekt auf professioneller Ebene und entsprang aus der Zusammenarbeit des Fotografen Roman von Götz, des Ideengebers und Präsidenten des Vereins A.S.B.L. (Association sans but lucratif, bedeutet: gemeinnützig) Jean Fetz und den Jugendlichen des Liewenshaffs in Merscheid. Der vorliegende Bildband erschien pünktlich im November 2010, zum 20-jährigen Jubiläum des Päerd’s Atelier A.S.B.L. »Liewenshaff«, dem Ort der Entstehung des Buchs. Diese Einrichtung ist ein »propädeutisches berufl iches Zentrum« im Norden des Großherzogtums Luxemburg, das Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten im Alter zwischen 15 und 22 Jahren in ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung in die Gesellschaft unterstützt. Zur Inspiration für die Entstehung und Wirkung von Bildern wurde zu Beginn des Projekts eine Fotoausstellung mit den Jugendlichen besucht. Ziel war es, den Jugendlichen die Möglichkeit zu bieten, in die Welt der Fotos einzutauchen und Impulse für eigene Bilder zu bekommen. Alle Jugendlichen, die im Päerd’s Atelier leben, wurden in das Projekt einbezogen und konnten ihren Anteil am Projekt selbst bestimmen, was sich in der Präsenz der einzelnen Jugendlichen im Buch widerspiegelt. Es gab keinen technischen Einführungskurs zu Beginn des Projekts, denn im Vordergrund stand der Beziehungsaufbau zwischen den Jugendlichen und dem Fotografen. Dieser regte immer wieder zum Fotografieren an und machte selbst viele Aufnahmen. Die Jugendlichen sind also nicht nur Thema des Buchs, sondern selbst auch Bild-Autoren. Es war von Beginn des Projekts an transparent, dass an dessen Ende ein Fotobuch mit den und über die Jugendlichen auf dem Hof, ihr Leben und ihre Arbeit entstehen sollte. Als Vorgaben für das Buch wurde im Vorhinein festgelegt, dass alle Fotos in Schwarz-Weiß abgebildet und nur die Jugendlichen dargestellt sein sollten, keiner der Lehrer, Psychologen oder Werkstattleiter des Hofs. Roman von Götz lebte von März bis Juli 2010 im Päerd’s Atelier und begleitete die Jugendlichen bei der täglichen Arbeit, bei gemeinsamen Mahlzeiten und in der Freizeit. Zu Beginn des Projekts war er stets einige Tage der Woche anwesend, gegen Ende begleitete er die Jugendlichen nahezu jeden Tag. Durch die gemeinsam verbrachte Zeit und die Arbeit entstand ein gegenseitiges Vertrauen, das es ermöglichte, von anfänglichen Fotos ausschließlich in den Arbeitsmodulen im Verlauf des Projekts immer mehr teilnehmend und spontan das Alltagsleben zu fotografieren. Dieser Vertrauensaufbau ist die Basis der Buchentstehung und stärkt den Ausdruck der Authentizität und Aussagekraft der einzelnen Bilder. Roman von Götz sagt dazu: »Der Höhepunkt meiner Bemühungen war zu sehen, wie die Jugendlichen die Kontrolle über die Kamera übernahmen, ohne Instruktionen von meiner Seite, sie zeigen ihre Vision der Dinge unabhängig von künstlichem Licht und professioneller Bearbeitung. In diesen Momenten war ich mir voll bewusst, meine Ziele zu erreichen « (159, Übersetzung M.V.). Auf diese Weise entstanden über 5000 Aufnahmen. Aus einer Vorauswahl von 500 Bildern wählte ein Gremium ca. 130 Fotos aus, die in diesem Buch auf 160 Seiten veröffentlicht sind. Die ausgewählten Bilder sind teilweise vom professionellen Fotografen gemacht, aber auch von den Jugendlichen selbst. Trotz der sehr unterschiedlichen Fotografen wirkt die Zusammenstellung der Bilder nicht unregelmäßig. Diese Auswahl von Bildern wird von mehrsprachigen Vorworten und einer Einführung (französisch, luxemburgisch, deutsch) begleitet, die den Liewenshaff in seiner Entwicklung sowie das konkret durchgeführte Projekt darstellen. Die Bilder zeigen die Perspektiven der Jugendlichen, sie sind aus ihrem persönlichen Lebenskontext heraus entstanden, zeigen Eindrücke aus der Arbeit und von dem Leben mit Tieren auf und um den Hof, in Küche, Freizeit und im Miteinander. Die Vielfalt der Fotos reicht von eindrücklichen aktionsreichen Momentaufnahmen bis hin zu Porträts. So stellt das gesamte Werk ein breites Spektrum des Lebens der Jugendlichen dar, drückt bewegende Empfindsamkeit, stille Momente, Nachdenklichkeit bis hin zu kraftvollen und bewegungsgeladenen Augenblicken aus. Die Fotos wirken sehr authentisch und strahlen Toleranz und Respekt aus. Schlagworte wie »Kompetenzen zutrauen « und »Verantwortung übertragen « spielten bei der Umsetzung des Projekts eine tragende Rolle. So stellt dieses Kunstbuch, das in seiner anspruchsvollen Ausstattung internationalen Anforderungen entspricht, ein beeindruckendes Produkt als logische Konsequenz aus einem sonderpädagogischen Projekt dar. Es ist ein weiterer gelungener Baustein des selbst gestellten Auftrags zur gesellschaftlichen Integration benachteiligter Jugendlicher des Liewenshaffs und macht den Hof zu einer vorbildlichen Einrichtung, die in der Gesellschaft kulturell und sozial anerkannt und mittlerweile fest in dem kleinen Ort Merscheid verankert ist. Nicht nur durch die kleine Auflage von 1000 Exemplaren wird dieses Buch zu etwas Besonderem. Der Esprit seiner Entstehung drückt sich im fertigen Produkt aus. Entstanden ist ein wertvolles sowie kunstvolles Buch, welches spüren lässt, dass die Umsetzung allen Beteiligten am Herzen lag, einschließlich der mitwirkenden Jugendlichen – ein außergewöhnliches und imponierendes Kunstwerk.

Marie-Christine Vierbuchen

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