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Irrwege und Auswege bei der Förderung von Lesen und Rechtschreiben
Reinhard Dümler

Für eine erfolgreiche gesellschaftliche Integration ist die Beherrschung unserer vermeintlich basalen Kulturtechniken des Lesens und Schreibens mittlerweile unerlässlich. Der geglückte Schriftspracherwerb für eine funktionale Anwendung gelingt jedoch längst nicht jedem Kind. Unzureichende Schriftsprachkenntnisse und daraus entstehende Verhaltensauffälligkeiten und Resignation gefährden ihre Persönlichkeitsentwicklung und berufliche Zukunft. Um dem Phänomen von Lese- Rechtschreibschwierigkeiten adäquat begegnen zu können, mangelt es sowohl an geeigneten schulischen Rahmenbedingungen als auch häufig an ausreichenden Kenntnissen hilfreicher Behandlungsmethoden.
Der Förderschullehrer Reinhard Dümler mit jahrelanger Erfahrung in der Präventions- und Interventionsarbeit bei Kindern mit Lese-Rechtschreibstörungen nähert sich der Thematik aus pädagogischer Sicht. Er deckt Problemfelder und Irrwege auf, mit denen sich Lehrer und Lehrerinnen bei ihrer Arbeit konfrontiert sehen. Aufgrund seiner Erfahrungen in der Anwendung unterschiedlicher Interventionsmethoden zeigt Dümler mögliche, »nicht als ein Muss« (5) zu verstehende Auswege auf.
Dieser Hinweis wird von dem Autor zu Recht getroffen, da Auftreten und Behandlung von LRS wissenschaftlich noch längst nicht durchdrungen sind und bei den Kindern große interindividuelle Unterschiede vorliegen. Die mitschwingende Emotionalität des Autors zur Thematik und den dargestellten Methoden, wie dem Leselehrgang »Lesen durch Schreiben« von J. Reichen sowie kinesiologische Maßnahmen bzw. der Ansatz der Edu-Kinestetik, zeigen deutlich seine favorisierten Ansätze und spiegeln eine stark auf subjektiven Einzelerfahrungen basierende Annäherung wider. Relativiert wird die Betonung dieser Verfahren jedoch durch den ebenso nachdrücklichen Verweis auf die mittlerweile unumstrittene Bedeutung der Phonologischen Bewusstheit als Vorläuferkompetenz für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb.
Zur Förderung der Phonologischen Bewusstheit empfiehlt der Autor qualitativ hochwertige Programme und warnt massiv vor einem unreflektierten Einsatz unzureichend erprobter Förderprogramme. Dümler weist jedoch auch auf die Grenzen der phonologischen Bewusstheit hin. Zahlreiche Wörter werden anders geschrieben als gehört (61) und so genannte Mitsprechwörter sind häufi g nur vermeintlich lauttreu. Dümler kritisiert die Inkonsequenz bei der Unterscheidung in Mitsprechwörter, Nachdenk- und Merkwörter und weist zudem auf eine fehlende Unterteilung der Merkwörter hin. Daraus resultiert für den Autor, dass jegliche Differenzierung unnötig wird, da letztlich jedes Wort eingeprägt werden müsse (58).
Die Analyse der Wörter, da ist Dümler zuzustimmen, basiert letztlich auf der Schriftsprache. Jedoch ist einer solch vehementen Ablehnung der Einteilung seitens Dümler zu widersprechen, da diese als durchaus hilfreich für die Förderung anzusehen ist, um Kinder beim Rechtschreiblernprozess nicht auf einmal mit zu vielen Schwierigkeiten zu konfrontieren. Unterstützend ist zudem eine Unterteilung der Merkwörter in die einzelnen orthographischen Besonderheiten. Damit wäre auch der von Dümler empfohlenen »didaktischen Reduktion« und der für Kinder notwendigen Transparenz Genüge getan: »Macht es den Schulanfängern nicht künstlich schwer, indem ihr Sachen an sie weitergebt, die nicht einmal ganz richtig sind.
Weniger ist oft mehr!« (68). Eigentlich zielt der Autor bei dieser Aussage auf schriftsprachlich basierte »didaktische Krücken« ab wie das »Hörbarmachen« eines silbentrennenden »h«. Doch übersieht Dümler dabei, dass dies bei silbenorientierter und somit sprechmotorisch natürlicher Durchgliederung für die schriftliche Umsetzung sehr hilfreich sein kann – sicher im Gegensatz zur Anweisung »hör genau hin, HUND wird mit d am Ende geschrieben«, was tatsächlich als falsch anzusehen ist (68). Die Silbentrennung beim Lesevorgang einzusetzen birgt hingegen, wie Dümler korrekt bemerkt, zahlreiche Fehlerquellen.
Zuzustimmen ist weiterhin der Anmerkung, auf bestimmte Regeln bei der Vermittlung zu verzichten, wenn fast mehr Ausnahmen zu verzeichnen sind als die so genannten Regelfälle (59). Als Ausweg schlägt Dümler Reichens Leselehrgang als »frustrationsfreie und sichere Methode« vor, »da […] die Kinder die  Möglichkeit [haben], sehr hohe Kompetenzen zu erwerben« (66). Bestimmt ist diese Methode für einige Kinder wertvoll, doch ist, wie Dümler eingangs ja selbst bemerkt, auch diese Methode kein »Allheilmittel«. Zudem ist auch die fachliche Kompetenz entscheidend für den Erfolg einer  Methode. Fehlendes Fachwissen wird von Dümler auch als Hindernis angeführt (141), dem er mit seinem Beitrag etwas entgegensetzen möchte. Dass Wissenslücken auch bei Fachlehrern vorhanden sind, erklärt, warum immer noch Entwicklungsverzögerungen übersehen werden (97) wie auch Sprachstörungen (135) oder Sinnesstörungen (140) oder auch physiologische Bedürfnisse (51) unzureichend beachtet werden oder zu häufig noch abgewartet wird (38) bzw. Kinder immer noch vom Lehrpersonal etikettiert und abgestempelt werden (29), was die oben genannten Verhaltensauffälligkeiten verstärken oder sogar auslösen kann. Auch die häufige Annahme, dass es sich bei einer Lese-Rechtschreibstörung um eine Krankheit handle (42) bzw. genetische Faktoren überbewertet werden (40), führt häufig nicht zu professionellen Handlungsschritten und dem Bestreben, Kinder mit Risikobelastungen so schnell wie möglich zu identifizieren (45), sondern zur Entbindung von Verantwortung. Zwar profitieren die Kinder von einem Verzicht auf die Notengebung (31), doch sollte nach Dümler immer wieder betont werden, dass nicht Bescheinigungen den Kindern helfen, sondern einzig und allein eine spezifische Förderung (31). Um jedoch ein Kind spezifisch fördern zu können, bedarf es, wie Dümler hervorhebt, einer genauen qualitativen Fehleranalyse (33ff.) zur Identifikation der beim betroffenen Kind vorhandenen Defizite und Kompetenzen. Letzteren sollten bei der Förderung auch besondere Beachtung geschenkt werden.
Ein Schwerpunkt der Arbeit von Dümler besteht in der Aufklärung über frühkindliche Reflexe, die, wie sich auch in seinen eigenen Untersuchungen zeigt (109), wesentlich häufiger bei sprachgestörten Kindern persistieren und nachzuweisen sind als bei sprachlich unauffälligen Kindern (109). Sehr fraglich ist jedoch, ob die Behandlung und der therapeutische Abbau dieser Reflexe tatsächlich in direktem Zusammenhang mit dem Lernerfolg stehen, wie Dümler es vermutet. Wichtig ist demnach die Forderung des Autors nach größer angelegten Untersuchungen (111), die zu unterstützen ist. Das gleiche sollte zudem für den von Dümler favorisierten Ansatz der Edu-Kinestetik zur Behandlung von Lateralitätsstörungen bei LRS gelten, zumal von der Universität München durchgeführte Untersuchungen der Methode keinen Erfolg zusprechen.
Dümlers nicht weiter belegte positive Erfahrungen mit diesen nicht schriftsprachspezifischen Methoden in der Behandlung von LRS führen zu der besonders starken Betonung und recht unkritischen Darstellung der Ansätze. In jedem Fall sollte ein endgültiges Fazit bezüglich der Anwendung dieser Methoden im Rahmen der LRS-Behandlung zurück gestellt werden, bis die Ergebnisse der vorgeschlagenen Studien vorliegen.
Problematisch erscheint die Betonung dieser Methoden vor allem auch aufgrund der von Dümler bemängelten Unkenntnis vieler Lehrer und Lehrerinnen bei der Behandlung von LRS und der häufig blindgläubigen Übernahme von Material und Methoden (58). Gerade die favorisierten alternativen Behandlungsmethoden sollten jedoch kritisch gesehen werden. Letztlich ist bei allen Interventionen fraglich, inwieweit ein positiver Einfluss auf den Schriftspracherwerb erzielt werden kann, wenn sich die Behandlung von der direkten Arbeit an und mit der Schrift entfernt. Insgesamt lässt sich sagen, dass das Buch »Irrwege und Auswege bei der Förderung von Lesen und Rechtschreiben « eine Fülle von praxisnahen Informationen für Lehrer und Lehrerinnen bereit stellt und einen sehr guten Einblick in die auftretenden Problemfelder bei der Förderung von LRS bietet. Dümler zeigt basierend auf eigenen Erfahrungen zahlreiche Auswegmöglichkeiten und Handlungsalternativen auf und gibt konkrete Vorschläge für die Behandlung an die Hand.

Daniela Kamutzki

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