Heike Blum und Detlef Beck greifen mit ihrem
Buch ein sich über alle Schularten erstreckendes und hochaktuelles Phänomen in
allen Schularten auf. Im Fokus stehen Mobbingprozesse zwischen Schülern, welche
zunehmend in das Bewusstsein von Pädagogen, Sonderpädagogen, Eltern, der
Schulverwaltung und der Öffentlichkeit rücken. Bislang fanden Mobbing-Opfer nur
wenig Verständnis für ihre Situation und so ist es nicht verwunderlich, dass
sie sich in Internetforen ge-outet und um Unterstützung gebeten haben (vgl. http://schueler-mobbing.de/, http://www.mobbing.net/). Derjenige, der selbst einmal Opfer von Mobbingprozessen war
bzw. in der Eltern- oder Lehrerrolle damit konfrontiert ist, weiß, wie schwer
es fällt, solche Prozesse zu stoppen und für Täter sowie Opfer und die
angeblich unbeteiligten Dritten eine konstruktive Lösung des Konfl ikts
herbeizuführen. Hier setzt die vorliegende Publikation an, indem gefordert
wird, hinzuschauen und zu handeln, anstatt das Problem zu verdrängen bzw. zu
ignorieren. Vor diesem Hintergrund zielt das Buch auf die Vorstellung und
Verbreitung eines vielfach erprobten und evaluierten Interventionskonzepts, den
»No Blame Approach«. Das Buch wendet sich an alle Menschen, die mit Kindern und
Jugendlichen arbeiten. Insofern wird einleitend formuliert: »Wir möchten
diejenigen, die mit jungen Menschen arbeiten, darin unterstützen, Mobbing zu
beenden und dafür Sorge zu tragen, Kindern und Jugendlichen die nötige
Sicherheit zu geben«. Explizit genannt werden Lehrkräfte, Schulsozialarbeiterinnen
und Schulsozialarbeiter, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen,
Schulpsychologinnen und Schulpsychologen, Eltern und Mitarbeiterinnen bzw.
Mitarbeiter der Kinder- und Jugendarbeit. Das Vorwort wurde von Barbara Maines und
George Robinson verfasst, welche das Konzept des »No Blame Approach«
konzipierten, 1991 in
Großbritannien erprobten und dann weiter entwickelten. Inzwischen ist es in
vielen Ländern verbreitet und wurde vor allem von Heike Blum und Detlef Beck in
Deutschland implementiert. In Kapitel 1 (Mobbing in der Schule) erfolgen die Klärung des Begriffs »Mobbing
«, die Abgrenzung zu »normalen« Konflikten, eine Auseinandersetzung mit der
Gefahr, dass jede/jeder zum Opfer von Mobbing werden kann, die Auflistung von
Eckdaten in Bezug auf Schulformen, Häufigkeit, Geschlecht, Alter, Aktionsräume
und Zeitpunkte für Mobbinghandlungen. Die Hinweise auf Studien über die Wirkung
von Interventionen durch Eltern fallen eher knapp aus. Inzwischen liegen eine
Reihe fundierter Studien (z.B. Brandl 2006; Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft 2009; Jäger/Fischer/Riebel/Fluck 2005; Ottlik 2005; Ortega/Mora-Merchán/ Jäger 2007; Klett 2005; Saller 2006; Schäfer 2004; Szaday 2001) vor,
welche differenziert Auskunft, auch über Cybermobbing, geben. Ein Hinweis auf Heinz
Leymann (1993 und 1995), der sich schon seit langem mit Mobbing am
Arbeitsplatz befasst, wird vermisst. Informativ und eindrücklich ist das
Diagramm zu den Wirkungen der Interventionen von Eltern der von Mobbing betroffenen
Schülerinnen und Schüler. Wertvolle Hinweise für die Lehrkräfte geben die
Ausführungen zum Erkennen von Mobbing, zu Mobbinghandlungen, Signalen und
Informationsquellen. In Kapitel 2 (Das Mobbing-System) werden bedeutsame Aspekte des Mobbing- Systems,
d.h. die Rollen der einzelnen Akteure, der Teufelskreis des Mobbing für die
Betroffenen, der Nutzen für die Klasse, die Erwachsenen als stützendes Element
und die Mobbing stabilisierenden Faktoren wie Schuldzuweisung, Verharmlosung,
Angst und Drohung, Nicht-Handeln sowie die organisatorischen Rahmenbedingungen kritisch
beleuchtet und in Form von übersichtlichen Grafiken zusammenfassend dargestellt.
In Kapitel 3 folgt die
Darstellung des Konzepts »No Blame Approach« unter Einbezug der englischen
Wurzeln, der Entwicklung in Deutschland, der theoretischen Verortung und
Eckpfeiler sowie Grundhaltungen. Interessant ist, dass Barbara Maines und
George Robinson den Interventionsansatz aus ihrer Arbeit mit
verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen entwickelt haben. Theoretische
Grundlagen sind die Überlegungen zur Familienkonferenz von Gordon (2004), systemische Ansätze und die
Kurzzeittherapie nach de Shazer (1988; 1998; 2006). Ihnen gemeinsam ist die Abkehr von
linearem Denken, der Problemorientierung und Suche nach Schuldigen hin zu einer
lösungsorientierten, systemischen und zukunftsgerichteten Vorgehensweise. Spannend
ist der Exkurs zu Erfahrungen aus schulpsychologischer Perspektive, indem der
»Täter« in Mobbingprozessen zum »Experten« umdefiniert wird. Dadurch bietet
sich auch für sie oder ihn die Chance zur Veränderung, da bewusst nicht
stigmatisiert wird. Auf den weiteren 86 Seiten folgt eine differenzierte und eng an der Praxis orientierte
Darstellung der zentralen Schritte des »No Blame Approach«. Zunächst werden
vorbereitende Maßnahmen wie die Beschaffung zusätzlicher Informationen über die
Mobbing-Situation, die Informierung der Eltern, organisatorische Abstimmungen
in der Schule und »Störfaktoren« thematisiert. Zu den Störfaktoren gehört vor
allem ein falsch verstandenes Engagement der Eltern von Mobbing-Betroffenen.
Wenn sie in guter Absicht zur Unterstützung ihres Kindes Kontakt zu den
Mobbing- Akteuren oder deren Eltern aufnehmen, führt dies in den allermeisten
Fällen zu einer Verschärfung des Konfl ikts. In Form von Szenarien werden
diverse Störelemente problematisiert. Sie sind treffend formuliert und
entsprechen auch unseren Erfahrungen. In strukturierter Weise werden die
einzelnen Schritte »Gespräch mit dem Mobbing-Betroffenen, der Einbezug der Unterstützergruppe
und die Nachgespräche « vorgetragen, ausdifferenziert und begründet. Anhand der
einzelnen Elemente wie Merk- und Eckpunkte, Gesprächsleitfaden, Live-Gespräch,
Fragen und Antworten sowie Evaluation wird deutlich, dass es sich um ein aus
der Unterrichtspraxis heraus entwickeltes, theoretisch fundiertes
Interventionskonzept handelt, welches der avisierten Zielgruppe des Buches
vielfältige Anregungen für die konstruktive Bearbeitung von Mobbingprozessen unter
Einbezug aller Beteiligten liefert und somit wertvolle Hinweise für die eigene
Erziehungspraxis gibt. Fallbeispiele zu Live-Gesprächen bieten den
interessierten Lesern konkrete Umsetzungsvorschläge, welche um Gesprächsleitfäden
ergänzt werden. Von zentraler Bedeutung ist die Unterstützungsgruppe, eine
Auswahl von Schülerinnen und Schülern, die gezielt von der Lehrperson
eingeladen und mit konkreten Aufgaben versehen werden. Gemäß des von Watzlawick
(1969) viel zitierten
Axioms »Man kann nicht nicht kommunizieren!« bedeutet dies übertragen auf die
Beobachterinnen und Beobachter von Mobbingprozessen: »Man kann nicht nicht
handeln«. Das bedeutet, auch ein Nicht-Reagieren bzw. Tolerieren von
Mobbinghandlungen führt zur Bestärkung der Täterin oder des Täters und zur
Isolation des Mobbing- Opfers. Insofern ist der Einbezug der auf den ersten
Blick »neutralen« Beobachterinnen/Beobachter nur konsequent. Das Konzept des
»No Blame Approach « empfiehlt eine gezielte Auswahl von Schülern, die bislang
nichts mit den Mobbinghandlungen zu tun hatten und eine konstruktive Rolle bei
der Lösung der problematischen Situation einnehmen können, inklusive von
Mobbing- Akteuren und Mitläufern. Die Rolle einer solchermaßen
zusammengestellten Gruppe besteht in der Unterstützung der pädagogischen
Fachkraft, mit dem Ziel, die Mobbing-Situation zu beenden. Ihr wird somit ein
Teil der Verantwortung für den weiteren Prozess der Bearbeitung des
Mobbingfalls übertragen. Konkrete Hinweise auf Handlungsmöglichkeiten, welche
nach der Intervention (Mobbing wurde gestoppt, Mobbing hat sich verlagert, Mobbing
geht weiter) erfolgen können, runden die Ausführungen zum »No Blame Approach«
ab. Die Ergebnisse der Evaluation, welche im Anschluss an die Beschreibung der drei
zentralen Schritte des »No Blame Approach« vorgetragen werden, sind beeindruckend.
Allerdings bleiben die Autoren den empirischen Nachweis an dieser Stelle
schuldig. Vertiefte Informationen zum Evaluationsdesign, zur Wirksamkeit und
zur Anwenderzufriedenheitfinden sich im Evaluationsbericht (http://www.no-blame-approach. de), der vom Bund für soziale Verteidigung e.V. (2008) in Auftrag gegeben und von fairaend – Konfliktberatung,
Mediation, Supervision und Weiterbildung (www.fairaend.de) erstellt wurde.
Insgesamt handelt es sich um ein für die Praktikerin und den Praktiker äußerst informatives
und hilfreiches Buch. Die Gestaltung der einzelnen Seiten ist klar und
ansprechend. Eine Reihe von Fotos und Grafiken ergänzen den Text sinnvoll bzw.
unterstreichen die Nähe zur Erziehungspraxis. Knappe und prägnante
Zusammenfassungen von zentralen Aspekten, z.B. in Form von Merkkästchen, geben
den interessierten Lesern einen guten Überblick und regen zur vertieften
Lektüre an. Der ehemalige Leiter der Bodenseeschule in Friedrichshafen, Alfred
Hinz, hat einmal formuliert: »Schule ist Stätte der Personwerdung,
Wissensvermittlung kann sie gar nicht verhindern«. Wenn die individuelle
Personwerdung auf Grund von Mobbingprozessen eingeschränkt oder gar verhindert
wird, so müssen Lehrerinnen und Lehrer intervenieren. Der »No Blame Approach« stellt
hierbei ein fundiertes und evaluiertes Konzept dar, welches im vorliegenden Buch
kompetent und präzise beschrieben wird.
Werner Bleher, Werner Ebner
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