Am 8. und 9. Juni 2011 fand erstmals ein Treffen der Dozentinnen und
Dozenten im Förderschwerpunkt Lernen (Lernbehindertenpädagogik) an der Universität Koblenz-Landau, im Institut für
Sonderpädagogik in Landau, statt. Die
Initiative zu einem fachlichen Austausch stieß auf breite Zustimmung. Über 20 Fachvertreter
aus verschiedenen Studienstätten nahmen teil. Intention des
Fachgesprächs war eine Verständigung über Grundlagen und Neuausrichtung des Förderschwerpunkts Lernen angesichts der
Veränderung des Bildungssystems in Richtung einer »inklusiven Schule«. Organisiert wurde das Fachgespräch von Bernhard
Rauh, Désirée Laubenstein, Lars Anken und Hans-Ludwig Auer. Die Einschätzungen
über die Situation an den Studienstätten und Bundesländern sowie die
mitgebrachten Erwartungen zeigten das hohe Interesse an einem fachlichen
Gedankenaustausch und dessen Notwendigkeit. Weitere Impulse brachten vorbereitete
Beiträge.
Prof. Dr. Norbert Wenning skizzierte ein Verständnis von Behinderung als Annahme
einer Differenz, die bezeichnet wird. Dr. Lars Anken referierte erkenntnistheoretische
Überlegungen: Um überhaupt Heterogenität feststellen zu können, muss ein Maß
für Homogenität bestehen. Er plädierte für ein »Maß zweiter Ordnung« als
Gradmesser von Inklusions- bzw. Exklusionsprozessen. Vertr. Prof. Dr. Marc
Thielen formulierte Anmerkungen zur Umsetzung der UN-Konvention: Eine Dominanz
moralischer Argumentationen falle auf; es bestehe die Gefahr einer
Vernachlässigung inhaltlicher und
emotional-sozialer Aspekte wie auch einer lebenslagen- und milieusensiblen Perspektive.
Vertr. Prof. Dr. Bernhard Rauh hinterfragte die Passung des Begriffs Lernen zur
Bestimmung des fachlichen Gegenstands eines sonderpädagogischen Unterstützungssystems
in der inklusiven Schule.
Prof. Dr. Clemens Hillenbrand zeigte exemplarisch auf, wie Themen, Auffassungen
zu Themen und Zuständigkeiten für die Bearbeitung von Themen im Diskurs
platziert werden können: In einem inklusiven Bildungssystem wäre die Expertise
des Förderschwerpunkts Lernen
insbesondere bei Dropout gefragt.
Marie-Christine Vierbuchen & Tobias Hagen stellten in der Konsequenz ein
Projekt zur Prävention von Dropout, dessen Grundlagen und erste Ergebnisse vor.
Für das fachliche Gespräch war viel Zeit und Raum eingeplant. Durch die Fokussierung
auf Dozentinnen und Dozenten im Förderschwerpunkt Lernen kam tatsächlich ein
sehr offenes und intensives Gespräch unter Experten zu den relevanten Themen in
Gang.
Folgende thematischen Akzente wurden gesetzt: Weitgehende Übereinstimmung bestand im
Bewusstsein, dass eine kritische Bearbeitung
der dominierenden schulorganisatorischen Verfasstheit des Förderschwerpunkts
Lernen unabdingbar sei. Die Diskussion hinterfragte die aktuelle Debatte im
Kontext von »Inklusion «. Für die fachliche Perspektive gelte es, eine
Ergänzung des bildungspolitisch-schulorganisatorischen Diskurses durch Forschungen
zu inhaltlichen und methodischen Fragen
sowie eine strategische Positionierung als »scientific community « über Forschungskontexte,
-inhalte, -methodiken vorzunehmen. Ein fachlich fundiertes Bewusstsein über
professionelle Kompetenzen wurde skizziert, das in ein inklusives
Bildungssystem eingebracht werden kann und muss.
Aus Sicht der Organisatoren lässt sich ein vierfaches Resümee ziehen:
Differenziert abwägende Analysen und Forschungen
sowie sachlich geführte Diskurse sind erforderlich, um auf einer fundierten Basis »gute« Entscheidungen
treffen oder sie Entscheidungsträgern empfehlen zu können.
Das Werden bzw. die Existenz einer scientific community besteht wesentlich darin,
ins Gespräch einzutreten, das offen geführt wird und in dem man sich
wechselseitig der Kritik aussetzt.
Die Impulsreferate und Diskussionsbeiträge forderten wiederholt eine stärkere Berücksichtigung
emotionaler Aspekte. Weist dies auf
eine begriffliche Neuorientierung des Förderschwerpunkts Lernen hin?
Transformiert sich der
Förderschwerpunkt Lernen hin zum Förderschwerpunkt emotionale und kognitive
Entwicklung?
Das Fachgespräch Förderschwerpunkt Lernen – wohin? in Landau hat »Lust auf
mehr« gemacht. Das nächste Fachgespräch findet am 06./07. Juli 2012 an der PH
Heidelberg (Prof. Dr. Birgit Werner) statt. Ob mit diesem Fachgespräch »eine Tradition gestiftet« wurde, die den fachlichen
Diskurs befördert, wird sich zeigen. Es wäre zu wünschen.
Bernhard Rauh