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Nachruf für Prof. Dr. Johann Andreas Möckel (1927-2019)

„Inklusion – das ist kein Scheitern. Das ist ein großer Erfolg! Wer glaubt, dass es einfach geht, der hat nicht verstanden, was dieser Auftrag wirklich bedeutet!“ Diese Aussage in einem persönlichen Gespräch im Frühjahr 2019 zeigt den Horizont, in dem Prof. Dr. Johann Andreas Möckel die aktuellen Entwicklungen auch im Alter von 92 Jahren verfolgte. Am 11. Dezember 2019 verstarb er in Würzburg. Er war der erste Inhaber eines Lehrstuhls für Sonderpädagogik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, den er 1976 übernahm. In den Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Forschungen stellte er Fragen der Geschichte der Sonderpädagogik, die er immer als Geschichte der Pädagogik verstand, die Förderung bei Lese-Rechtschreibschwäche, aber auch Grundsatzfragen der Sonderpädagogik, die er auf Basis einer breiten philosophischen Bildung und christlichen Orientierung bearbeitete. Auf der Feier zu seinem 90. Geburtstag im Jahr 2017, an der auch der vds teilnahm und ihm für seine herausgehobene Mitarbeit im Verband dankte, trug er diese Perspektiven mit dem ihm eigenen hohen Engagement vor.

Geboren am 30. Januar 1927 in Großpold in Siebenbürgen, heute Rumänien, erlebte er das Ende des 2. Weltkriegs, das ihn sehr persönlich betraf. Er besuchte das Gymnasium in Kronstadt, wo sein Vater als evangelischer Pastor tätig war, als er im Januar 1945 als junger Mann gefangen genommen wurde. Zwei Jahre zwangsweise im Bergwerk in der Sowjetunion, in der heutigen Ukraine, eingesetzt, wurde er 1947 nach Deutschland in die sowjetische Besatzungszone entlassen. Möckel gelangte in den Westen und schloss 1951 seine Ausbildung zum Volksschullehrer in Stuttgart ab. In seinen späteren Vorlesungen zur Geschichte nahm er Bezug auf diese Erfahrungen: Was passiert mit dem Menschen, wenn er sich ohnmächtig in den Händen politischer Gewalten erlebt? Lebenslang setzte er sich in praktischen Initiativen, in der Politik, in zahlreichen Vereinen und Verbänden, in der Geschichte der Siebenbürger Sachsen und in seiner wissenschaftlichen Arbeit für Frieden und soziale Gerechtigkeit ein. Neben praktischen Aufgaben in der Fortbildung für die Unterstützung bei Lese-Rechtschreibschwäche und seinem vielfältigen politischen Engagement war er auch immer für den Verband Sonderpädagogik aktiv. Gerade aus der historischen Betrachtung heraus waren ihm die hohe Bedeutung von Verbänden und Gewerkschaften bewusst und er trat für sie ein, selbst wenn er sich engagiert streitend mit einzelnen Entwicklungen auseinandersetzte.

Nach Praxisjahren in der Schule führte er 1953 sein Studium der Fächer Geschichte, Philosophie und Pädagogik fort und wurde 1961 von Otto Friedrich Bollnow an der Universität Tübingen promoviert. Von 1959 bis 1962 als Assistent am Seminar für die Hilfsschullehrerausbildung tätig, lehrte Möckel ab 1963 an der PH Reutlingen Geschichte und Geschichtsdidaktik. 1969 wurde er dort Professor für Allgemeine Pädagogik und übernahm die Leitung des Reutlinger Instituts für Sonderpädagogik. In der Kommission Sonderpädagogik im Deutschen Bildungsrat arbeitete er von 1969 bis 1973 mit, die Kommission wurde von Jakob Muth geleitet und Möckel wusste sich ihm verbunden. Die hier entwickelte Konzeption der „Kooperativen Gesamtschule“, durch die sonderpädagogische Expertise in die Allgemeine Schule als professionelle Unterstützung integriert wird, stellte für ihn eine gute schulorganisatorische Antwort auf grundlegende Fragen von (damals) Integration und professioneller Kooperation dar. Diese wichtigen Erfahrungen brachte er 1976 in seine Tätigkeit als erster Universitätsprofessor für Sonderpädagogik an die Universität Würzburg mit. „Scheitern und Neuanfang in der Erziehung“, die „besondere Grund- und Hauptschule“ oder „Krisen in der Erziehung“ lauten Überschriften wichtiger Publikationen. Es ging ihm jeweils um den engen Zusammenhang von Sonderpädagogik und Allgemeiner Pädagogik, um Erziehung und Unterricht, deren Krisen und Scheitern sowie um die neuen Wege, die in heilpädagogischen Institutionen gesucht und gefunden wurden. Realistisch erkannte Möckel aber auch die Probleme: Die Konzeption der „Kooperativen Gesamtschule“ erhielt in den späteren bildungspolitischen Debatten keine Chance, die Bemühungen hatten gewissermaßen die „Rechnung ohne den Wirt“ gemacht, wie Möckel in einer Veröffentlichung feststellte.

Die historischen Arbeiten mündeten 1988 in seine „Geschichte der Heilpädagogik“, die 2007 in 2. Auflage erschien und bis heute ein Standardwerk auf der Grundlage intensiver Quellenarbeit darstellt. Den „Verrat an den Kindern“, also das Handeln von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen in der Zeit des Nationalsozialismus, untersuchte er kritisch und auf Basis eigener Archivarbeit. Als Historiker trug ihm der vds auch die Erstellung der Dokumentation zum 100jährigen Bestehen des Verbands 1998 an, die er unter dem Titel „Erfolg – Niedergang – Neuanfang“ mit großem Einsatz und unter Heranziehung wichtiger Vertreterinnen und Vertreter des Fachs erstellte. Die vorbereitenden Konferenzen mit intensivem Austausch der Teilnehmerinnen und Teilnehmer stellten spannende wissenschaftliche Diskurse im Fach dar, von Möckel zurückhaltend und doch engagiert moderiert. Das Buch bietet bis heute einen wichtigen Überblick über die Geschichte des Verbands. Auf dem Symposium des vds in Weimar 2016, veröffentlicht im Beiheft der Zeitschrift für Heilpädagogik 2017, ging er der „Gleichschaltung“ des Verbands und den Aktivitäten nationalsozialistischer Mitglieder detailliert nach. Sein sehr persönliches und hoch engagiertes Statement auf dem Symposium in Weimar und auf der Festveranstaltung zu seinem 90. Geburtstag in Würzburg bleiben den Zuhörern prägend in Erinnerung. Hier nahm auch der Bundesvorstand des vds teilnahm und dankte ihm für seine wichtige Mitarbeit im Verband.

Als Hochschullehrer und Professor, der die Lehre wertschätzte, bot er über seine Emeritierung 1992 hinaus den Studierenden der Sonderpädagogik anspruchsvolle wissenschaftliche Diskurse an. Auf der Grundlage eines selbstbewussten christlichen Glaubens nahm er den Philosophen Eugen Rosenstock-Huessy auf, der über Sprache, Gesellschaft und Zeit schrieb und den Möckel auch in die universitäre Lehre der Sonderpädagogik eingebunden hat – was seinen Studierenden oft nicht leichtfiel. In seinem Promotions-Kolleg, aus dem eine ganze Reihe von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern hervorging, pflegte er eine große Freiheit in der inhaltlichen Debatte, die sich durch keine engen methodischen Vorgaben, sondern große Ermutigung auszeichnete.

Seit Mitte 2019 liegt sein jüngstes Buch „Das Paradigma der Heilpädagogik“ vor, in dem Möckel gewissermaßen seine Argumentation konzentriert zusammenfasst: Heilpädagogik versucht auf Krisen der Erziehung zu antworten, indem sie eine neue Sprache findet und dadurch die selbstverantwortete Lebensführung ermöglicht, was Möckel die Selbstheilung nennt. Daher lässt sich Heilpädagogik als ein Modell, als ein Paradigma für alle Erziehung verstehen: der „Wiederbeginn eines unterbrochenen oder der Beginn eines noch nicht einmal versuchten Lern oder Erziehungsprozesses“ (Möckel, 2019, S.10).

Bei der Trauerfeier am 20. Dezember 2019 in Würzburg nahmen viele Wegbegleiter, Kolleginnen und Kollegen, ehemalige Studierende und Mitglieder zahlreicher sozialer und politischer Initiativen teil, in denen Andreas Möckel sich bis zuletzt engagiert hat. Er arbeitete noch am Tag seines Todes an neuen Veröffentlichungen. „Hoch gebildet, aber nie eingebildet. Hoch betagt, aber nicht alt. Hoch angesehen, aber nie überheblich“ – so beschrieb der Pfarrer der Heimatgemeinde in Würzburg seine Person. Andreas Möckel stellt eine große Persönlichkeit der Sonderpädagogik dar, für ihn empfinden viele eine hohe Dankbarkeit.

Clemens Hillenbrand

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