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Nachruf auf Prof. Dr. Gustav O. Kanter

Prof. Dr. Gustav O. Kanter

Prof. Dr. rer. nat. Dr. phil. h. c. multi   Gustav O. Kanter ist am  29. August 2018 im 92. Lebensjahr verstorben. Am 9. Januar 1927 wurde er in Ludwigshafen am Rhein geboren. Ende der zwanziger Jahre waren auch in Deutschland die Folgen der  Weltwirtschaftskrise massiv spürbar. Sein Vater, promovierter Volkswirt, mit dem politisch-christlich aktiven Flügel des Zentrums verbunden, hatte mit seiner Familie durch die Zunahme nationalsozialistischer Einflussnahme in Ludwigshafen einen schweren Stand. Die Familie zog nach Marburg, und Gustav Kanter besuchte am neuen Wohnort das Humanistische Gymnasium. Vor dem Abitur jedoch wurde er 1943 als Luftwaffenhelfer zur „Verteidigung der Heimat“ eingezogen. Es folgten Fronteinsatz und Gefangenschaft.

Mit Kriegsende war Kanters Vater erkrankt. Sein Sohn musste sich um die Familie kümmern. Ihm wurde eine Tätigkeit als Schulhelfer mit einem kargen Monatsgehalt angeboten, die er mit großem Engagement erfolgreich ausführte. Nach nur kurzer Probezeit wurde ihm die Leitung einer Einklassigen Dorfschule im Hessischen Bergland übertragen. Hier konnte er weitere wertvolle pädagogische Erfahrungen sammeln. Als ehemaliger Schulhelfer erhielt er die Gelegenheit,  ein Kurzstudium zu absolvieren, die erste Lehramtsprüfung abzulegen und nach der vorgeschriebenen Probezeit als Lehramtsanwärter die Lehrbefähigung für das Lehramt an Volksschulen zu erwerben. Aufgrund seiner guten Prüfungsleistungen wurde Kanter schließlich an eine Stadtschule nach Marburg versetzt. Von da an nahm er ein regelmäßiges nebenberufliches Weiterbildungsstudium an der Philipps-Universität wahr. 1959 legte er im neu konzipierten Sonderpädagogikstudium die Hilfsschullehrerprüfung mit Auszeichnung ab. Darüber hinaus interessierte ihn das Psychologiestudium vor allem in seiner empirischen Ausrichtung unter Düker, Lienert, Traxel und Tausch. Nach Erwerb des Vordiploms in Psychologie erwarb er 1962 das Hauptdiplom mit dem Prädikat „sehr gut“. Als Sonderschullehrer und Pädagogischer Mitarbeiter am Institut für Sonderschulpädagogik an der Marburger Universität wurde er 1966 mit seiner Dissertation „Experimentelle Untersuchungen zu Problemen der Lernbehinderung bei Sonderschülern“ zum Dr. rer. nat. promoviert (Fächer: Psychologie, Physiologie, Pädagogik). Neben seinem Doktorvater Dr. phil. Dr. rer. nat. h. c. Heinrich Düker wird Gustav Kanter in besonderem Maße vom Direktor des Marburger Sonderpädagogischen Instituts Dr. med. Dr. phil. Helmut von Bracken gefördert. Dieser ging von der Grundeinstellung Paul Moors - ein Gründungsvater der Heilpädagogik - aus: „Heilpädagogik ist Pädagogik und nichts anderes“, jedoch „unter erschwerenden Bedingungen“. Von Bracken, wie Kanter es berichtete, formulierte ergänzend: „… bei besonderen Schwierigkeiten des Sich-Bildens der Persönlichkeit“. Kanter sieht als verbindendes Grundelement heilpädagogischen Wirkens die Erziehung und  pädagogische Rehabilitation behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher, wobei die Vielfalt an Erscheinungsformen von Behinderung und an erschwerenden Bedingungen Ausdifferenzierung und Spezialisierung erfordert. Heilpädagogik bzw. Sonderpädagogik als anwendungsbezogene und integrative Wissenschaft ist auf die Zusammenarbeit mit anderen Human- und Sozialwissenschaften angewiesen, um effektiv fördern zu können.  Marburg steht für Kanters mehrperspektivische Sichtweise von Behinderung und vermittelt ihm das wissenschaftsmethodische Rüstzeug für seinen erfahrungswissenschaftlich bestimmten Zugang bei der Aufarbeitung sonderpädagogischer Problembereiche. Als von Bracken 1984 starb, folgte Gustav Kanter ihm in der Herausgeberschaft der Zeitschrift „Heilpädagogische Forschung“.

1967 nimmt Kanter den Ruf auf eine H3-Professur für Psychologie mit dem Schwerpunkt Pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Hochschule Lüneburg an. Im Jahre 1970 erging an ihn der Ruf auf eine Professur für Heilpädagogische Psychologie an der pädagogischen Hochschule Niedersachsens, Abteilung Hannover. In demselben Jahr erhält er auch den Ruf auf einen Lehrstuhl für Pädagogik der Lernbehinderten und der Geistigbehinderten an der Pädagogischen Hochschule Rheinland, Abteilung für Heilpädagogik in Köln. Kanter entscheidet sich für Köln. Die Kölner Abteilung für Heilpädagogik entwickelte sich damals  mit dreieinhalbtausend Studierenden zur größten sonderpädagogischen Studienstätte in Europa. Auch einen Ruf auf eine ordentliche Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Lernbehindertenpädagogik an die Universität Hamburg im Jahre 1974 lehnt er ab. In Köln ist er von 1974 bis 1976 Dekan der Abteilung für Heilpädagogik. Für die Amtsperioden 1976/77 und 1977/78 wird er zum Rektor der Pädagogischen Hochschule Rheinland gewählt und ist von 1978 bis 1980 deren Prorektor. Damit verbunden ist eine umfangreiche Tätigkeit in vielen Gremien der universitären Selbstverwaltung.   

Von 1971 bis 1989 nahm Gustav Kanter neben Ulrich Bleidick das Amt des Schriftleiters der Zeitschrift für Heilpädagogik wahr. Er war damit zugleich Mitglied im Vorstand des Verbands Deutscher Sonderschulen (jetzt: Verband Sonderpädagogik) und bekleidete ein Amt, das in Sachen Behinderung ein hohes Maß an bildungspolitischem Engagement erfordert. Verbunden damit ist u. a. eine umfangreiche  publizistische Tätigkeit in der Zeitschrift selbst, an Korrespondenz mit Mitgliedern des Verbands sowie das Halten von Vorträgen auf Kongressen und Veranstaltungen in der Fort- und Weiterbildung.

Unabhängig von der Zeitschrift für Heilpädagogik liegt uns mit Kanters zahlreichen Veröffentlichungen ein thematisch weit gefasstes Themenspektrum vor. Dieses betrifft sowohl erziehungswissenschaftliche Grundlagen sowie Unterrichtstheorie und Unterrichtspraxis für das Lernen unter erschwerten Bedingungen. Gustav Kanter hat nie das schulische Lernen aus dem Auge verloren. So veröffentlichte er z. B. mit Hanno Langenohl in den siebziger Jahren im Marhold Verlag eine achtbändige Didaktikreihe für die damalige Schule für Lernbehinderte in den Lern- und Arbeitsbereichen Mathematik, Biologie, Physik, Geographie, Soziales Lernen, Deutschunterricht, Sportunterricht, Unterrichtstheorie und Unterrichtsplanung. In den 1980er Jahren erschien zunächst im Verlag Schwann-Bagel, in Weiterführung später im Cornelsen Verlag, das von Kanter mit Heribert Jussen und Horst Kreye herausgegebene Arbeitsbuch Sprache, das in Sonderschulen wie in Allgemeinen Schulen mit vier Grundlagenbänden und zehn Arbeitsheften über viele Jahre seinen Einsatz fand. Hier zeigt sich zugleich das Organisationstalent Kanters, der sein Team mit Lehrkräften erweiterte, die u. a.  in der Unterrichtspraxis die einzelnen Lektionen erprobten.

Kanters mit Fritz Masendorf herausgegebene Reihe „Fortschritte sonderpädagogischer Forschung und Praxis“ lässt sein Bestreben deutlich werden, Forschung nicht im Elfenbeinturm zu betreiben, sondern über den Anwendungsbereich in der Praxis zu erproben, zu bestätigen oder zu korrigieren.

1977 ff. erschien im Marhold Verlag das 12bändige Handbuch der Sonderpädagogik, herausgegeben von Heinz Bach, Ulrich Bleidick, Gustav O. Kanter, Karl Josef Klauer, Otto Kröhnert, Anton Reinartz. Kanter veröffentlichte 1977 mit Otto Speck den 4. Band „Pädagogik der Lernbehinderten“. In seinen dortigen Grundlagenartikeln zur „Lernbehindertenpädagogik – Gegenstandsbestimmung, Begriffsklärung“ und  „Lernbehinderungen und die Personengruppe der Lernbehinderten“ geht Kanter in seinem Denkansatz unter Einbeziehung des gesamtgesellschaftlichen Kontexts weit über Schule hinaus und ist unter Berücksichtigung der historischen Perspektive heute noch - auch in seiner Analyse der Bedingungsfelder für das Entstehen von Lernbehinderung unter Einbeziehung „bio-sozialer Interaktion und Kumulation“ aktuell und für eine kritische Diskussion unverzichtbar. 

Gustav Kanter war schon in einer Zeit Hochschullehrer, als zunächst in den 1960er Jahren die Expansionsphase der Sonderschulen ihren Höhepunkt fand. Die Frage nach Integration, nach einem Gemeinsamen Unterricht mit behinderten und nicht behinderten Kindern, nahm an Aktualität mit der Gründung der Gesamtschule zu. Die vom Deutschen Bildungsrat einberufene Sonderkommission für Behinderte unter Leitung von Jakob Muth forderte den Gemeinsamen Unterricht weitest möglich zu realisieren. Gustav Kanter schrieb 1973/74 im Auftrage des Deutschen Bildungsrates sein Gutachten „Lernbehinderungen, Lernbehinderte, deren Erziehung und Rehabilitation“, das in seiner sachkompetenten Analyse und Perspektivenentwicklung weit reichende Beachtung fand.

1982 verleiht der Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Fernuniversität – Gesamthochschule -  Hagen Gustav Kanter die Ehrendoktorwürde (Dr. phil. h. c.) für den Aufbau eines umfassenden Fernstudiengangs im Bereich der Sonderpädagogik. Es ist der erste universitäre Fernstudiengang in diesem Bereich, der mit der Ersten Staatsprüfung abgeschlossen werden kann und von vielen nebenberuflich Studierenden mit Erfolg studiert wurde. Verbunden damit ist für diesen komplexen Studiengang die Konzeption und Herausgabe von entsprechenden Studienbriefen hervorzuheben. Kanter selbst war für sein Fachgebiet Autor von vier Studienbriefen. 1988 wird Kanter das Verdienstkreuz Erster Klasse verliehen. Nach seiner Emeritierung im Jahre 1992 baut er das sonderpädagogische Aufbaustudium, zunächst über Lehraufträge in Zusammenarbeit mit Otto Speck, an der Universität Potsdam auf. Als geschäftsführender Leiter des Instituts Sonderpädagogik wirbt er vier Professorenstellen ein. 1994, anlässlich der feierlichen Eröffnung des Instituts für Sonderpädagogik an der Universität Potsdam, wird Gustav Kanter seitens der Philosophischen Fakultät 2 eine weitere Ehrendoktorwürde (Dr. phil. h.c.) verliehen.        

Gustav Kanter hat in den Jahrzehnten nach dem Krieg und in nachfolgender Zeit das Bildungswesen für Menschen mit Benachteiligung und Behinderung nachhaltig geprägt und für diese durch seine engagierte und umfassende Tätigkeit in Wissenschaft, Forschung und Lehre an der Hochschule, in Gremien und Verbänden Großes geleistet.

Mit Dankbarkeit und Trauer nehmen wir Abschied von Gustav Kanter.

Ditmar Schmetz und Peter Wachtel

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