„16 Länder und die gleiche Problemstellung“. Mit diesem Hinweis und einer wertvollen Analyse der aktuellen Situation von Schülerinnen und Schülern in der Schule eröffnete die Vorsitzende des Bundesverbands Autismus Deutschland e.V., Maria Kaminski (Osnabrück), zusammen mit der Vorsitzenden des Verbands Sonderpädagogik, Dr. Angela Ehlers, die gemeinsam als Veranstaltung der Zivilgesellschaft und der Kultusministerkonferenz konzipierte und durchgeführte Tagung am 28.09.2018 in Kassel-Wilhelmshöhe. Geladen waren zahlreiche Experten aus Beratungsstellen, Träger und Anbieter von Schulbegleitung, die für Sonderpädagogik zuständigen Referentinnen und Referenten der Länder und die dort zuständigen Fachkräfte für Autismus sowie Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Der Sprecher der Länderreferentinnen und -referenten für Sonderpädagogik bei der KMK, Sönke Asmussen (Baden-Württemberg), verwies auf das Ziel, neue Empfehlungen auf KMK-Ebene zu erstellen, deren Kernanliegen die Sicherung der Bildungsteilhabe von Schülerinnen und Schülern im Autismusspektrum ist. Er wies zudem auf die besondere Problematik hin, die sich im Anschluss an den Besuch der Allgemeinen Schule ergibt. Der Weg in eine Berufsausbildung oder das Studium scheint in besonderer Weise zur Hürde zu werden.
Ministerialrätin Tanja Götz aus Bayern zeigte zu Beginn der Fachtagung auf, welche Grundlagen in der Schulgesetzgebung der Länder sowie in der Sozialgesetzgebung Anwendung finden müssen und verwies insbesondere auf die Thematik des Bündelns der Ressource ‚Schulbegleitung‘ (sog.: Pooling) und aktueller Hürden, die durch den einklagbaren Anspruch in Bezug auf die Individualrechte nach der Sozialgesetzgebung entstehen. Im Gegensatz zu aktuellen schulpolitischen Entwicklungen in den Ländern, (Stichwort „systembezogene Ressourcenzuweisung“), stärkt das Bundesteilhabegesetz in besonderer Weise den Anspruch des Einzelnen auf Leistungen zur Teilhabe. Die Vorsitzende des Verbands Sonderpädagogik regte in diesem Zusammenhang den möglichen Abschluss von Rahmenverträgen an.
Im Vortrag von Prof. Dr. Tebartz van Elst (Universität Freiburg) wurden anhand wesentlicher Aspekte Besonderheiten und Erschwernisse aufgezeigt, die einen professionellen Umgang mit Kindern und Jugendlichen aus dem Autismusspektrum und ihre klinische Behandlung zum Teil erheblich belasten und irreleiten können. Zu Verwechslungen im Sinne einer Fehldiagnose käme es immer wieder im Bereich der Borderline-Patientinnen und Patienten. Menschen im Autismusspektrum seien in besonderer Weise von Mobbing betroffen und könnten oft nicht eigenständig Hilfe holen. Sekundär kämen für die betroffenen Menschen oft Störungen aus dem depressiven Formenkreis hinzu, da sie ablehnendes Verhalten ihrer sozialen Umwelt in der Regel nicht analysieren und verstehen könnten. Bei der Arbeit mit Menschen im Autismuspektrum müsse die Triangularität „Struktur-Probleme-Zustände“ differenziert betrachtet werden. Ein Strukturaspekt wie „Reizoffenheit“ sei durch die Person nicht veränderbar. Betroffene Personen würden oft als rigide oder stur erlebt. Hinweise oder gar eine Anweisung durch Lehrkräfte oder betreuendes Personal, wie zum Beispiel: „Nun achte doch nicht auf jedes kleine Ärgern deiner Mitschüler“ oder „Nun sei doch nicht so schwierig“ seien nicht hilfreich. Probleme hingegen, die aufgrund dieser gegebenen Struktur entstehen können, seien bearbeitbar oder häufig sogar vermeidbar. Das beträfe auch häufig gezeigte expressive Verhaltensweisen. Zustände, hierunter fallen auch die gut medikamentös zu behandelnden psychodynamisch depressiven oder psychotischen Reaktionen, seien sekundärer Natur und würden im Autismus-Syndrom nur in mittelbarer Weise entstehen. Eine gute Herangehensweise an das Thema Autismus sei es sicherlich, in Aus-, Fort- und Weiterbildung Standardsituationen mit den Lehrkräften einzuüben, wie auf starres und reizoffenes Verhalten eingegangen werden könne. Tebartz Van Elst verwies in diesem Zusammenhang auf die Vorteile der Dialektischen Verhaltenstherapie.
Der sich anschließende Veranstaltungsteil ging in drei Themenblöcken auf Förderansätze und schulische Bildungsangebote ein. Im Fachvortrag ging Prof. Dr. Andreas Eckert (Zürich) der Frage nach den Gelingensbedingungen einer schulischen Förderung und ihrer Umsetzung nach. Er stellte die neuen Möglichkeiten für eine Förderung schulischer Teilhabe von Schülerinnen und Schülern durch das Einführen sogenannter Fachbegleiter in der deutschsprachigen Schweiz dar. In der Befragung von über 200 Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen wurde untersucht, welche Ausbildungs- und Fortbildungselemente besonders zielführend sein können. Weiter wurden in dieser Untersuchung Fragen aufgeworfen, die in die weitere schulpolitische Entwicklung einbezogen werden können: Ist es ein zukunftsweisender Schritt, einen Förderschwerpunkt Lernen bei Kindern und Jugendlichen im Autismusspektrum festzustellen? Im Umgang mit Schülerinnen und Schülern im Autismusspektrum in der Schule sei noch keine ausreichende Evidenzbasierung vorhanden. Sicher lägen Vorteile vorerst in einer Konzeption modellbasierter schulischer Interventionen.
Der zweite Themenblock widmete sich den Stolpersteinen, die sich in der Praxis ergeben. Dr. Anne Häußler vom Team Autismus GbR betonte die Notwendigkeit, das Bildungsangebot autismusspezifisch anzupassen. Übergänge etc. müssten von Anfang an zielführend gestaltet werden, da ein ‚Ausprobieren‘ verschiedener Maßnahmen, Wege und Interventionen in der Arbeit von autistischen Kindern und Jugendlichen im Autismusspektrum nicht das Mittel der Wahl darstelle.
Der abschließende Themenblock zeigte bewährte Praxisbeispiele auf. Unter anderem wurden qualitativ hochwertige Beratungs- und Unterstützungsstrukturen aus Berlin vorgestellt. Kerstin Michlo und Swantje Ohder bezogen sich auf die Anpassungsnotwendigkeit zentraler Arbeiten und berichteten über das Beratungssystem sowie die eingerichteten allgemeinen Schwerpunktschulen. Bernd Maaß präsentierte im Anschluss daran das Vorgehen in Schleswig-Holstein. Die Beratungsstelle Inklusive Schule/BIS-Autismus bietet verschiedene Formen von Beratung an, betreut Netzwerke und ist in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften aktiv.
Die Ergebnisse dieser umfassenden Fachtagung sollen die Grundlage weiterer Beratungen bilden und nicht zuletzt zu weiterer Auseinandersetzung der Länder auf der KMK-Ebene mit dem Thema „Bildungsteilhabe bei Autismus“ führen. Drohendes Mobbing und Absentismus sind neben der Förderung erfolgreicher Bildungsbiografien vor einer erschwerten kommunikativen Ausgangslage thematische Beispiele für die besondere Bedeutung spezifischer Handlungskompetenzen in der Schule und in den Unterricht unterstützenden Systemen.
Dagmar Brunsch
v.l.: Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst, Dr. Angela Ehlers, Sönke Asmussen
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