Aktuelle Problemstellungen im Bereich der Sonderpädagogik standen im Mittelpunkt auch des 4. Würzburger Gesprächs des Verbands Sonderpädagogik mit jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die Bundesvorsitzende Angela Ehlers hatte im Namen des vds eingeladen und neun Forscherinnen und Forscher nahmen teil: Antje Dresen (Mainz), Blanka Hartmann ( Bremen), Stefanie Roos (Köln), Andrea Schmid (Oldenburg), Satyam Schramm (Potsdam), Jan Steffens (Dresden), Vera Tillmann (München) und Marie Christine Vierbuchen (Oldenburg) waren der Einladung nach Würzburg gefolgt. Als Gast der Universität Würzburg konnte Angela Ehlers den Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik bei Verhaltensstörungen, Prof. Dr. Roland Stein, begrüßen.
Gemeinsam mit den Schriftleitern Peter Wachtel und Clemens Hillenbrand diskutierte die Runde zu den für den Fachverband sehr bedeutsamen Themenbereichen Lehrerbildung für eine inklusive Schule und Lebenslanges Lernen.
Der Impulsbeitrag zum Anstoß der Diskussion über die Lehrerbildung kam von Clemens Hillenbrand:
Internationale wissenschaftliche Befunde zeigen deutlich, dass inklusive Bildung eine anspruchsvolle Aufgabe für Lehrkräfte darstellt: Neben der oft im Vordergrund stehenden Einstellung von Lehrkräften gehören deren Wissen und Können unverzichtbar dazu, so die European Agency, um die Aufgabenfelder Unterricht und Vermittlung, Beratung, Kooperation und Zusammenarbeit, Förderplanung und eigene Professionalisierung der Lehrkräfte in inklusiven Bildungssystemen angemessen ausfüllen zu können. Gerade durch die Aktivitäten und Impulse des vds in den letzten Jahren führte die bildungspolitische Debatte weg von der Infragestellung des sonderpädagogischen Lehramts (Lehramtsstudiengang V der KMK-Vereinbarungen) und hin zu einer Verbreiterung der Lehrerbildung für Inklusion.
Die anschließende Diskussion der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler deckte zahlreiche innovative und bisher nicht fokussierte Aspekte auf: – Die Notwendigkeit entsprechender Qualifikationen zeigt sich neben dem schulischen deutlich im außerschulischen Bereich, beispielsweise im Sport und in der Erwachsenenbildung sowie bei der Qualifikation von Assistenzkräften und Schulleitungen.
Einig war sich die Runde in der Feststellung, dass kurze Maßnahmen wie zum Beispiel im Rahmen von eintägigen Fortbildungen einzelner Lehrkräfte, wenig Nachhaltigkeit zeigen. Hingegen erfordern die unverzichtbare Entwicklung multiprofessioneller Teams sowie die Beachtung von Dimensionen der Lehrergesundheit eine längerfristige Begleitung. Dies setzt entsprechende Ressourcen sowie Bereitschaft zur Veränderung, Motivation von Kollegien, Initiierung von Veränderungsprozessen und die Überwindung der Sehnsucht nach business as usual voraus.
Der Zusammenhang von Inhalt und Struktur gelingender inklusiver Bildungsprozesse wurde in mehreren Facetten angesprochen. Eine spannende Frage stellt die Bedeutung von institutionellen und organisatorischen Strukturen für professionelle Schulentwicklungsprozesse dar – was wirkt eher unterstützend, was eher hemmend?
Die Anwendungsorientierung der Inhalte einer Professionalisierung für inklusive Bildung, die unter dem Stichwort Evidenzbasierung diskutiert wird, bildet eine wichtige Perspektive, die immer durch ethische Reflexion begleitet werden muss.
Die 2. Phase der Lehrerbildung wird nach zahlreichen übereinstimmenden Berichten nicht selten als wenig innovativ oder unterstützend, sondern eher als einfügend, ja manchmal sogar als repressiv und wenig vorbereitend für eine immer stärker auf Kooperation angelegte Profession erlebt. Hier fiel das Stichwort des Konservatismus-Syndroms. Positive Entwicklungen in dieser Phase sind jedoch ebenfalls häufig zu beobachten, sie zu begleiten und durch Forschungen Erkenntnisse festzuhalten sowie Strukturen weiterzuentwickeln, wäre ausgesprochen lohnenswert.
Für die Gestaltung inklusiver Situationen stellt die Leistungsorientierung eine spannende Frage dar. Im Sport beispielsweise gelten Leistung und Leistungsfähigkeit als ein ganz wesentliches und positiv besetztes Merkmal von Teilhabe. In schulischen Kontexten, darin bestand Einigkeit, muss ebenfalls von einer grundsätzlichen Motivation zur Leistung – selbstverständlich ebenso bei vorliegenden Beeinträchtigungen und Behinderungen – ausgegangen werden. Entscheidend werden dabei das individuelle Feedback über die Lernprozesse, die dabei angelegte Bezugsnorm und die Resonanz der Lerngruppe sein.
Aufgrund der wenigen Befunde zur Professionalisierung für Inklusion werden weitere Forschungen erforderlich, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Lehre und Ausbildung verfolgen, auch darin waren sich die Tagungsteilnehmerinnen und -telnehmer einig, das Ziel einer Expertise in der praktischen Anwendung von Forschungen: Es braucht Konzepte ohne Rezepte!
Nach der gemeinsamen Mittagspause leitete die Bundesvorsitzende Angela Ehlers das Thema Lebenslanges Lernen ein. Angesichts der Erweiterung des Satzungsauftrags auf der Hauptversammlung 2015 in Berlin war der Austausch hierzu von besonderem Interesse für die Verbandsarbeit.
In dem Impulsbeitrag für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ging es im Wesentlichen um Aspekte wie:
- Ausgangspunkt für den Verband Sonderpädagogik ist die auf der Hauptversammlung 2015 in Berlin beschlossene Satzungsänderung, wonach sich der vds zukünftig neben der Förderung von Kindern und Jugendlichen in Allgemeinen und Beruflichen Schulen, in Sonderschulen und in anderen Institutionen ebenso für Inhalte und Formen lebenslanger Bildung sowie für die wissenschaftliche Grundlegung der Sonderpädagogik einsetzt.
- Lebenslange Bildung wird in diesem Sinne als Weiterbildung sowohl als intentionales Lernen als auch als nicht-intentionales Lernen begriffen, das sich kontinuierlich über die gesamte Biographie erstreckt und an ganz unterschiedlichen Lernorten je nach Wunsch und Bedarf der Lernenden stattfinden kann. Bisher findet sich in Deutschland nach wie vor ein regelhaft nicht-inklusives Verständnis von formalen, non-formalen und informellen Lernformen nach Beendigung der Schulzeit.
- Eine Grundlage für Diskussionen um inklusives Lebenslanges Lernen – wie die VN-Behindertenrechtskonvention fordert: an inclusive system of lifelong learning – bildet das Lissabonner Memorandum der EU von 2000. Lebenslanges Lernen wird im Rahmen der Europäischen Beschäftigungsstrategie als jede zielgerichtete Lerntätigkeit definiert, die einer kontinuierlichen Verbesserung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Kompetenzen dient und das Ziel der Förderung der aktiven Staatsbürgerinnen und Staatsbürger verfolgt. In diesem Memorandum werden die Gewährleistung des ständigen und umfassenden Zugangs zum Lernen, die Entwicklung effektiver Lehr- und Lernmaßnahmen, die Verbesserung der Methoden zur Bewertung von Lernbeteiligungen, die Gewährleistung von hochwertigen Informations- und Beratungsangeboten sowie die Schaffung von wohnortnahen Möglichkeiten gefordert.
- Nicht nur die klare Auftragslage zur Ausgestaltung des lebenslangen Lernens auf der Grundlage des Artikels 24 der VN-BRK ist für den vds Antrieb und Verpflichtung, sondern ebenso die Verbands-Leitlinien mit ihrer lebenslangen Dimension individueller Bildungsprozesse für alle gesellschaftlichen Gruppen im Sinne eines weiten Inklusionsbegriffs und der Gestaltung angemessener Vorkehrungen zur Teilhabe für alle Menschen.
Die anschließende Diskussion der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeigte auch bei diesem zweiten wichtigen Thema zahlreiche bisher zu wenig beachtete Aspekte auf.
Die wichtigsten sollen hier kurz skizziert werden:
Das Verständnis einer Pädagogik der Vielfalt gibt im Kontext lebenslanger Bildung drei maßgebliche Orientierungen, nämlich die Inklusionsorientierung, dass alle Menschen in gemeinsamer Bildung Relevanz, Würde und Anerkennung finden, die Ressourcenorientierung, dass die Ausstattung mit Ressourcen den Abbau von Barrieren und echte Teilhabe an inklusiver Bildung ermöglicht, sowie die Subjektorientierung, dass jeder einzelne Mensch im dialogischen Prozess persönliche Stärken und ein positives Selbstkonzept entwickelt.
Forschung muss, darin waren sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer einig, in allen Orientierungsfeldern stattfinden. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, dass sich die Bildungseinrichtungen an die vielfältigen und individuellen Bedarfe der Menschen anpassen und nicht umgekehrt. Bisher fehlt eine systematische Ausgestaltung inklusiven lebenslangen Lernens sowohl im nationalen als auch im europäischen Kontext völlig.
Der Brückenbau im Übergang von einer Bildungsinstitution in die nächstfolgende, von der Frühförderung bis zur lebenslangen Weiterbildung mit Hilfe eines interdisziplinären sonderpädagogischen Unterstützungssystems wird als wichtige Gelingensbedingung inklusiver Bildung und dauerhafter Empowerment-Prozesse angesehen. Auch hier wird ein Forschungsschwerpunkt dringend benötigt. Die Einbeziehung von Gender-, Glaubens- und Migrationsaspekten sowie Bedingungen von Armut und Behinderung waren dabei selbstverständlicher Konsens.
Ganz wesentliche weitere Aspekte sind die Einbeziehung der Menschen ohne sichtbare oder offensichtliche Behinderungen – als Menschen mit Unterstützungsbedarf in den Schwerpunkten Lernen, Sprache sowie Emotionale und soziale Entwicklung – sowie der Ansatz des gemeinsam gestalteten Lebens in Partizipation und Autonomie im Quartier und der gemeinschaftlichen Ausgestaltung des Raums als Community-Ansatz. Das Angebot inklusiven lebenslangen Lernens darf nicht ausschließlich der Volkshochschule als Anbieter überantwortet werden. Hierzu gehört auch die Fragestellung, in wieweit Angebote in Leichter bzw. verständlicher Sprache inklusive Bildung fördern oder mitunter zur Exklusion beitragen können.
In der Bilanz der Tagung waren sich alle Anwesenden einig: Die fachliche Vielfalt, die in diesem offenen Gespräch eingebracht werden konnte, war ungemein bereichernd. Die unterschiedlichen Perspektiven der Teilnehmerinnen und Teilnehmer – Erwachsenenbildung, Lehrerbildung allgemein, Sportwissenschaften, Lehrerbildung für Sonderpädagogik, Qualifikation weiterer pädagogischer Fachkräfte, Ministerium – bereicherten die Diskussion ungemein.
Das Würzburger Gespräch, wiederum moderiert von Clemens Hillenbrand, wurde von allen Beteiligten als ein spannender und anregender Austausch erlebt. Für den vds, so Angela Ehlers in ihrem Schlusswort, zeigen sich aus der fachlichen Expertise der Anwesenden anregende Perspektiven für die Verwirklichung des Auftrags des Fachverbands Sonderpädagogik als Vertreter der Zivilgesellschaft, aber auch konkrete Möglichkeiten der Kooperation mit Hochschulen und anderen Verbänden. Der Austausch mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bietet wichtige Anregungen für die Verbandsaktivitäten und soll in Zukunft auf jeden Fall weitergeführt werden. Die Vertreterinnen und Vertreter des vds luden abschließend alle Gesprächsteilnehmenden ein, sich an der Weiterentwicklung und den vielfältigen Aktivitäten des Verbands zu beteiligen – und das hat auch bereits zu Beitritten geführt.
Angela Ehlers, Clemens Hillenbrand