Wie bereits 2010 und 2013 war auch dieser Kongress des Verbands Sonderpädagogik e.V. lange vor Beginn mit 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmern ausgebucht. Hinzu kamen noch etwas mehr als 50 Referentinnen und Referenten und zehn Aussteller, die ihre Fachliteratur präsentierten. Dank der wieder hervorragenden Organisation durch den Landesverband Thüringen unter der Leitung der Landesvorsitzenden Gisela Langer konnte der Kongress in dieser Größenordnung durch die allesamt ehrenamtlich Tätigen reibungslos verlaufen.
Die interessierten Besucherinnen und Besucher erwartete nach dem kenntnisreichen und differenzierten Eröffnungsvortrag von Prof. Dr. Gérard Bless, Universität Fribourg, Schweiz, aus der Perspektive der Integrationsforschung zum Kongressthema „Respekt – Relevanz – Ressourcen“ ein vielfältiges Angebot aus insgesamt 42 Vorträgen und Seminaren.
Neu in diesem Jahr war das historische Forum, das sich mit der Auseinandersetzung um die Rolle der Sonderpädagogik im Dritten Reich befasste. Wie aktuell Geschichte ist, wurde den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an diesem langfristig vorbereiteten Forum zur Sonderpädagogik im Nationalsozialismus bewusst, denn eine Diskussion, die seit Jahren in der Wissenschaftsgemeinde geführt wird, erhielt plötzlich durch einen Kommentar in einer überregionalen Tageszeitung große Beachtung. Deshalb soll auch an dieser Stelle ein ausführlicher über dieses Forum berichtet werden.
Die Beiträge gingen der Frage nach, wie Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland handelten, verbunden mit der Frage, ob die Verwicklungen „verschwiegen“ wurden (Hänsel) oder bereits seit langem in der Forschung aufgearbeitet werden (Möckel, Ellger-Rüttgardt, Hillenbrand). Im ersten Beitrag referierte Frank Brodehl aus seinen differenzierten Quellenstudien zur Geschichte der Gehörlosenpädagogik im Nationalsozialismus, insbesondere im Kontext der Durchführung von Maßnahmen nach dem 'Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses'. Die vorliegenden Quellen, so seine Bilanz, zeigen sehr differenzierte Entwicklungen. Insbesondere die Reihenuntersuchungen, die von Amtsärzten in Taubstummenanstalten durchgeführt wurden, stehen im Zusammenhang mit einer hohen Zahl von Meldungen an die Erbgesundheitsgerichte.
Andreas Möckel stellte detailliert die Gleichschaltung des Verbands der Hilfsschulen Deutschlands (VdHD) dar. Diese Gleichschaltung geschah durch Überrumpelungsaktionen von zuvor kaum in Erscheinung getretenen Mitgliedern des Verbands, die sich dadurch einen Karriereschub versprachen. Die Verantwortlichen des VdHD wiederum durchschauten diese Vorgänge zu wenig und zu spät. Sie passten sich an, um – wie sie meinten – zu retten, was zu retten war.
Dagmar Hänsel wirft schon seit längerem den Forschungen zur Historiographie der Sonderpädagogik vor, Verwicklungen der Sonderpädagogik im Nationalsozialismus zu verschweigen. In ihrem Beitrag in Weimar führte sie als Beleg die Einführung des Begriffs Sonderpädagogik durch die Reichsfachschaft V des Nationalsozialistischen Lehrerbunds an, aber auch die Kooperation von nationalsozialistischen Hilfsschullehrern mit dem Rassenpolitischen Amt.
Sieglind Ellger-Rüttgardt entgegnete mit dem Hinweis auf zahlreiche vorliegende Forschungsergebnisse, die eine systematische Aufarbeitung der Verwicklungen von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen, aber auch der Geschichte des Widerstands dokumentieren. Sie verwahrte sich explizit gegen den Vorwurf, Vorgänge zu „verschweigen“ oder „unter den Teppich zu kehren“.
Clemens Hillenbrand griff einerseits die auf aktuelle Entwicklungen zielenden Vorwürfe Hänsels gegen die Sonderpädagogik auf, machte aber andererseits in seinen historischen Analysen zur Kontinuität sonderpädagogischer Lehrerbildung den Zusammenhang zur Entwicklung der Volksschullehrerbildung deutlich. Die Etablierung einer akademischen Sonderpädagogik geschah mit Unterstützung der Volksschullehrerverbände, aber auch renommierter Wissenschaftler anderer Disziplinen. Der vds, so Hillenbrand, unterstützt zudem seit langem die historische Forschung und insbesondere die Aufarbeitung der Verwicklungen von früheren Repräsentanten des Verbands (Lesemann, Lesch, Hoffmann u.a.).
Wolfgang Jantzen thematisierte in seinem engagierten und sehr persönlichen Beitrag intensiv die Bedeutung historischer Reflexion und Selbst-Infragestellung sowie der Ankerpunkte der Selbstvergewisserung. Er wies auf die Bedeutung eines politischen Engagements hin, das für gemeinsame Lebensräume eintritt und baute damit die Brücke zu den Zukunftsaufgaben moderner Sonderpädagogik.
Die Frage nach der weiteren Forschung zur Problematik beantwortete Christian Lindmeier, der Vorsitzende der Sektion Sonderpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). Für die Aufarbeitung der Geschichte der Sonderpädagogik im Nationalsozialismus wird die DGfE eigens eine Kommission aus Historikern der Erziehungswissenschaft und der Sonderpädagogik sowie angrenzender Wissenschaftsbereiche einberufen. Der vds wird die Arbeit dieser Kommission nach Kräften unterstützen.
Die abschließende Diskussion machte die verschiedenen Positionen deutlich, für die sich der vds als Plattform des Austauschs, als Forum im besten Sinn, versteht. Die Vorträge dieses Forums werden noch in diesem Jahr in einem Beiheft zur Zeitschrift für Heilpädagogik veröffentlicht.
Im Anschluss an dieses historische Forum gaben Annett Thiele, Désirée Laubenstein, Michael Grosche und Jan Kuhl mit ihren Beiträgen über die Perspektiven der Pädagogik und des Unterrichts bei besonderem Unterstützungsbedarf einen Ausblick in die Zukunft der Sonderpädagogik. Die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler boten Einblicke in wichtige aktuelle Forschungsfelder mit hoher Praxisrelevanz.
Die 42 Vorträge und Seminare aus den verschiedensten Fach- und Förderbereichen sowie die beiden Foren fanden viel Zustimmung, wie die Ergebnisse der Evaluation zeigen, an der insgesamt 346 Besucherinnen und Besucher teilnahmen.
Ausdrücklich bedanken möchte sich der vds für die sehr positiven und bestärkenden Rückmeldungen, aber auch für die kritisch-konstruktiven Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge. Sicherlich kann eine so große Veranstaltung nicht alle Wünsche und Erwartungen erfüllen, auch haben wir nicht auf alle Ereignisse und organisatorische Rahmenbedingungen Einfluss, aber, wo wir etwas verbessern können, werden wir diese Anregungen gerne aufgreifen und umsetzen.
Weiter wachsend ist die Zahl der Kolleginnen und Kollegen der Allgemeinen Schulen, die die Veranstaltungen des Verbands Sonderpädagogik e.V. besuchen. Wir werten dies als deutliches Signal, dass weiterhin großer Bedarf an Fortbildungsangeboten zum Bereich der inklusiven Bildung besteht und werden deshalb die Zeit bis zum nächsten Sonderpädagogischen Kongress 2019 entsprechend nutzen und weiterhin Bundesfachkongresse anbieten.
So wird noch in diesem Jahr vom 16. bis 17. September 2016 in Würzburg ein Fachkongress zum Thema „Wenn alle Stricke reißen – Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen mit hohem Unterstützungsbedarf“ stattfinden. Eine detaillierte Ausschreibung ist auf der Homepage des Verbands unter Termine zu finden.
Für 2017 sind zwei weitere Fachkongresse in Planung, im Frühjahr in Oldenburg zum Thema Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen und Traumatisierungen (vorläufiger Arbeitstitel) und im Herbst in Dortmund zum Bereich Übergänge gestalten und sich an Schnittstellen nicht mehr schneiden (vorläufiger Arbeitstitel).
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Prof. Dr. Dagmar Hänsel, Prof. Dr. Sieglind Ellger-Rüttgardt, im Hingergrund: Prof. Dr. Wolfgang Jantzen |
Gisela Langer, Dr. Angela Ehlers |
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Dagmar Brunsch, Adriane Rader, Dr. Birgit Klaubert, Dr. Angela Ehlers, Andrea Herrmann-Weide, Eva Morgenroth |
Prof. Dr. Andreas Möckel, Prof. Dr. Clemens Hillenbrand |