Dem wissenschaftlichen Nachwuchs eine Plattform zur Diskussion und zum Erfahrungsaustausch zu bieten – darin sieht der Verband Sonderpädagogik e. V. eine wichtige Aufgabe. So fand am 11. Januar 2014 bereits zum dritten Mal das sogenannte Würzburger Gespräch statt, zu dem der vds 15 junge Wissenschaftler von den Universitäten und Hochschulen Köln, Heidelberg, Landau, Würzburg, Dortmund, München, Rostock, Siegen, Oldenburg und Ludwigsburg-Reutlingen eingeladen hatte.
Im Rahmen einer kurzen Vorstellungsrunde berichteten die Wissenschaftler über ihre derzeitigen Forschungsprojekte, die eine breite Spanne sonderpädagogischer Handlungsfelder abdecken: Von der Entwicklung von Lehr- und Lernmaterialien über Prävention von Dropout, didaktische Ansätze wie den Advance Organizer, die schulische Re-Integration bis hin zu veränderten Aufgaben von Sonderpädagogen in inklusiven Systemen, der veränderten Rolle von Schulleitungen, dem RTI-Modell sowie pädagogischen Fragen der Inklusion bei besonders erschwerten Bedingungen reichte die Palette.
Einen Impuls zur anschließenden Diskussion gab AR Dr. Bernhard Rauh, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg-Reutlingen, mit seinem Kurzreferat zu „Herausforderungen inklusiver Didaktik – Perspektiven sonderpädagogischer Förderung von Kindern und Jugendlichen: Didaktik inklusiver Bildung“. Er sieht die zentrale Herausforderung inklusiver Didaktik in der produktiven Nutzung der Heterogenität und der didaktischen Anerkennung der Individualität der Schülerinnen und Schüler. Für eine Didaktik des inklusiven Unterrichts gelten seiner Ansicht nach „dieselben Kriterien, die für ‚guten‘ Unterricht leitend sind“. Hier bezieht er sich auf die zehn Merkmale guten Unterrichts nach Hilbert Meyer (2004) und hebt fünf besonders hervor:
- Klare Strukturierung des Unterrichtsprozesses
- hoher Anteil echter Lernzeit
- lernförderliche und wertschätzende Klassenkultur
- Methodenvielfalt
- Erhebung der individuellen Lernausgangslagen und „Passung“ der Lernangebote.
Die gegenwärtigen Aufgaben von Sonderpädagogen sieht er neben den administrativen Tätigkeiten insbesondere in den Bereichen Diagnostik, Beratung, Unterricht bzw. Förderung und Fortbildung. In einem gestuften System, so Rauhs Vorschlag, sollten die Bildungsangebote insbesondere die spezifischen Lebenswelten und zu beobachtenden Entwicklungskrisen beachten. Sonderpädagogische Unterstützung kann anschließend die besonderen Bedürfnissen in den Bereichen des Lernens und der emotionalen und sozialen Entwicklungen aufgreifen und Unterstützungsangebote entwickeln.
Es schloss sich eine Diskussion an, die vor allen Dingen den Aspekt des Team-Teachings in inklusiven Settings in den Blick nahm. Hier wurden umfangreiche Fortbildungsthemen angesprochen. Es stellten sich dabei auch Fragen nach den Kernkompetenzen der sonderpädagogischen Profession und der klaren Aufgabenverteilungen, nach klärenden Absprachen von gemeinsamen und spezifischen Aufgabenbereichen. Wichtiges Ziel muss dabei nach Einschätzung der Wissenschaftler sein, inklusive Settings als Rahmen für erfolgreiche Lernprozesse zu gestalten und für alle Beteiligten erfahrbar zu machen. Dass dabei Entwicklungen in kleinen Schritten erfolgen, erschien durchaus realistisch.
Ein weiterer Schwerpunkt der Diskussion war das Response-to-Intervention-Modell (RTI), das als evidenzbasiertes Modell in wissenschaftlicher Sicht international höchste Anerkennung gefunden hat. In manchen Ministerien und Schulen in Deutschland wird das Rahmenkonzept jedoch missverstanden und als mechanistisches Modell im Sinne von ständiger Diagnostik zum Zweck der Aussonderung fehlinterpretiert. Hier zeigen sich auch Probleme in der Vermittlung von Wissenschaft und Politik.
Der Nachmittag begann mit einem weiteren kurzen Impulsreferat von Dr. Anna-Maria Hintz, Universität Siegen, zur „Sicherstellung von Unterrichtsqualität in inklusiven Settings“ auf der Basis der UN-Behindertenrechtskonvention und der Umsetzung in den Ländern. Sie zeigte auf, dass es zwar eine Regelung in Bezug auf Orte der inklusiven Förderung gibt, aber keine Regelung zur Sicherstellung der Qualität und der konkreten Vorgehensweise des Unterrichts. Sie stellte die Frage, was hochwertigen Unterricht ausmache und wie erfolgreiches Lernen eines jeden Einzelnen sichergestellt werden könne. Hervorzuheben sind hier u.a. die Bereiche Strukturierung des Unterrichts und das Unterrichtsklima (Classroom Management) sowie evidenzbasierte Curricula, für die es bisher jedoch wenig Unterstützung im deutschen Sprachraum gibt. Auf die Frage „What works best?“ hob Hintz mit Rückgriff auf die Hattie-Studie (2009) die Bedeutung aktivierender Lernstrategien hervor. Für eine evidenzbasierte Praxis stellt dann ein systematisches Feedback durch eine Lernfortschrittsdiagnose mit fundierten Verfahren eine notwendige Bedingung dar (vgl. Abbildung).
Im Anschluss an diesen Vortrag wurde über die Wirksamkeit von Fortbildung diskutiert und durch Berichte aus mehreren Projekten, beispielsweise dem Rügener Inklusionsmodell, konkretisiert. Auch die Stärkung von Selbstwirksamkeit und Selbstreflexionsvermögen von Lehrerinnen und Lehrern kann als Professionalisierungsstrategie im Kontext inklusiver Unterrichtsentwicklung eine wichtige Dimension darstellen. Als weiteres und praxisrelevantes Thema wurde die Evaluation von Lernmaterialien, gerade für inklusive Unterrichtsformen, identifiziert. Äußerst selten werden bisher überhaupt Unterrichts- und Förderprogramme wissenschaftlich geprüft, die länderspezifischen Zulassungsverfahren berücksichtigen keine wissenschaftlichen Kriterien. Allerdings wirken diese Materialien direkt auf den Lernprozess und die Interaktionen der Lernenden ein, so dass ihre Wirkung kaum überschätzt werden kann. Wissenschaftliche Projekte zur Prüfung fundierter Lern- und Förderprogramme stellen daher eine bedeutende Zukunftsaufgabe sonderpädagogischer Forschung dar. Das Thema sollte auch vom Verband Sonderpädagogik aufgegriffen werden.
Gegen Ende stellten Professor Dr. Clemens Hillenbrand, der die Veranstaltung moderierte, und Bundesvorsitzender Stephan Prändl den jungen Wissenschaftlern die Frage, worin sie den Auftrag des Verbands Sonderpädagogik in Bezug auf ihre Arbeit sehen.
Es kristallisierte sich klar heraus, dass dem Verband als Bindeglied zwischen Hochschule und Schule besondere Bedeutung beigemessen wird. Es könnten Tandems entstehen zwischen Schulen einer Region und den Universitäten. Eine enge Kooperation zwischen Hochschulen und dem vds wird aber auch gesehen in Bezug auf die politischen Aktivitäten des Verbands, die durch wissenschaftlich fundierte Stellungnahmen und Argumente der Hochschulen diskutiert und abgesichert werden können.
Als problematisch angesehen wurde die derzeitige Situation hinsichtlich des Ausbaus der Schulen zu inklusiven Systemen in Bezug auf die Ausbildung der Lehrkräfte und dem gleichzeitigen mangelnden Kontakt der bereits aktiven Lehrer zu den Universitäten. Hier erhofft man sich vom Verband Sonderpädagogik wichtige Impulse für einen engeren Transfer von Wissen und Können.
Das Treffen wurde von allen Beteiligten als rundum gelungen bezeichnet. Es war eine Plattform des unverkrampften Austauschs und des sich Kennenlernens.
Beendet wurde dieses dritte Würzburger Gespräch mit der Zusage des vds, eine online-Befragung auf der Website des Verbands durchzuführen zu der Fragestellung „Was wünschen Lehrkräfte von den Wissenschaftlern?“. Ein entsprechender Fragebogen wird dem vds in absehbarer Zeit zur Verfügung gestellt. Die Kooperation des Verbands mit den Nachwuchswissenschaftlern bietet wichtige Anregungen für die Verbandsaktivitäten und wird in Zukunft fortgeführt werden.
Marianne Schardt
Teilnehmer am Würzburger Gespräch:
Mareike Drinhaus |
Pädagogische Hochschule Heidelberg |
Tobias Hagen |
Universität zu Köln |
Dr. Anna-Maria Hintz |
Universität zu Köln |
Andrea Kapfer |
Universität München |
Dr. Kathrin Mahlau |
Universität Rostock |
Dr. Daniel Mays |
Universität Siegen |
Dr. Conny Melzer |
Universität Oldenburg |
AR Dr. Bernhard Rauh |
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg |
Carolin Reinck |
Universität Oldenburg |
David Scheer |
Universität Landau |
Stefan Voss |
Universität Rostock |
Dr. Robert Vrban |
Pädagogische Hochschule Heidelberg |
Simone van Zadelhoff |
TU Dortmund |
Prof. Dr. Stephan Ellinger |
Universität Würzburg |